Geschichte: Der Schrank


 Der Schrank
Buch:
  Die tragische Existenz meiner Wohnungseinrichtung
Autor:
 Rolf (Profil)
Datum:
 10.12.2013 15:15

(Aus der Reihe meiner Einrichtung, die ihre tragische Existenz fristet)

Hach, was war der Rokoko-Schrank doch eitel. Seine reichen, geschnitzten Verzierungen schimmerten in glänzenden Farben, goldenem Lack oder farblos lackiert, mit Mustern und pompösen Ornamenten. Auf seiner Oberkante war, einer Krone gleich, ein fein gearbeitetes Ornament, das wie geflochten schien. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Spiegel, und hätte da keiner gehangen, der Schrank wäre sich seiner Anmut nie bewusst geworden.
Er war noch nie überdrüssig seines Anblicks. Jeden Tag entdeckte er ein neues Detail seiner Verzierungen. So schwelgte er verträumt in seiner Welt. Bis er eines Tages aus den Augenwinkeln eine kleine Kommode neben sich stehen sah. Er hatte sie noch nie zuvor bemerkt.
"He du!", bellte er zur Seite, "Was suchst du hier?"
Die Kommode rührte sich nicht.
"Hat es dir ob deiner Hässlichkeit die Sprache verschlagen?" , provozierte der Schrank weiter.
"Nein, hat es nicht!", antwortete die Kommode nun, "Und ich bin nicht hässlich!"
Der Schrank musste so heftig lachen, dass er beinahe einen Riss bekommen hätte.
"Schau dich an. Keine einzige Verzierung ist an dir! Nur gerade Ecken und Kanten! Und der schmale Metallgriff, und das zerbrechliche, kleine Schloss. Es ist eine Schande mit dir zu reden, jawohl, eine Schande sich mit dir zu Unterhalten!"
Wortlos hörte sich die Kommode seine Schimpftirade an.
"Holzkopf, neumodischer Kasten!" schimpfte der Schrank. Nun platzte der Kommode aber die Schublade!
"He, erlaube mal! Was fällt dir alter Firlefanzfratze eigentlich ein? Ich stehe hier immerhin auch schon seit über drei Jahren!"
Der Schrank erschrak. Konnte es sein, dass er seit drei Jahren diese Kommode nicht bemerkt hatte?
Er überlegte. Er erinnerte sich an viele Details seiner Verzierungen, wie er sich betrachtete, konnte aber beim besten Willen nicht sagen, ob da tatsächlich jemand neben ihm gestanden hatte.
"Ach, du bist nur vorübergehend hier, bis man dich entsorgen wird!"
"Da wäre ich mir nicht sicher, mein grosses, verziertes Gebälk mit deiner grossen Klappe!"
Der Schrank schloss schnell seine Türe. "Gar nicht wahr!"
"Doch, doch", fuhr die Kommode fort, "Ich werde häufig genutzt. Und mittlerweile häufiger als du! In meinen Schubladen sind die neusten Kleider, die hippsten Schuhe und die trendigsten Jacken, die jeden Tag gebraucht werden. In dich stopfen sie als das alte, abgetragene Gerümpel, das sie nicht mehr brauchen."
Der Schrank überlegte. Verflixt, der kleine Kerl hatte doch tatsächlich recht. Er war wie ein Speicher. Das war ungerecht. Er war der schöne. Er war der hippe, der trendige Kasten. Zumindest war er das mal.
"Na schön, aber ich werde nie wieder ein Wort mit dir wechseln!" Er beschloss, dass er diese Unterhaltung umgehend vergessen würde, und widmete sich seiner Studie der Ornamente im Speigel.
Einige Wochen vergingen.
Der Schrank starrte in den Spiegel. Aus seine Augenwinkeln fiel ihm plötzlich ein potthässliches, kleines Ding auf, das da neben ihm stand.
"He du!", bellte er zur Seite, "Was suchst du hier?"
Die Kommode seufzte leise. Alle paar Wochen war es wieder dasselbe Gespräch – seit über drei Jahren…



2 mal bearbeitet. Zuletzt am 24.07.14 13:51.

 Re: Der Schrank
Autor:
 lynggs (Profil)
Datum:
 18.12.2013 07:22
Bewertung:
 

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