Geschichte: Eine Begegnung


 Eine Begegnung
Buch:
  -
Autor:
 nrvna
Datum:
 07.07.2014 22:50

Je dunkler es wird, desto besser kann man die kleinen, herumschwirrenden Tierchen im Schein der hell beleuchteten Strassenlaterne erkennen. Unter der Laterne sitzt eine junge Frau auf einer alten, zerkratzten, grünen Parkbank und sieht mit starrem Blick in die Ferne, aufs Meer. In einer Hand hält sie einen Notizblock, in der Anderen einen Stift, doch ihr will einfach nichts einfallen, was sie zeichnen oder schreiben könnte. „Vielleicht kommen die Gedanken mit dem Untergehen der Sonne“, hat sie sich gesagt. Doch selbst jetzt, als die Sonne schon lange im Meer versunken ist, herrscht in ihrem Kopf ein einziges Durcheinander. Der Wind weht ihr die langen, braunen, lockigen Haare ins Gesicht und sie hat Mühe. Sie kann das Blut auf ihrer Zunge schmecken, weil sie die ganze Zeit immer wieder auf ihre Lippen beisst. Manchmal wünscht sie sich, dass jemand sie sehen würde. Ihre Mimik, ihre Bemühungen, ihre Gedanken. Alles zieht bloss an ihr vorbei, wie in einem Film. Sie war mochte schon immer das Dramatische. Am Horizont sieht sie nicht den Schein des Leuchtturms, sondern die dunkeln Wolken, die sich wie eine Decke über das Meer gelegt haben. „Gefangen“. Das einzige Wort, das sie bis jetzt niedergeschrieben hat. Gefangen in ihr selbst. In ihr steigt ein beklemmendes Gefühl auf – eine Mischung zwischen Selbstkritik und der Wut, die daraus entsteht, Langeweile und Geduldlosigkeit. Am Liebsten würde sie schreien, dieses Gefühl einfach mal rauslassen, sich aus diesem Käfig befreien. Doch da es mitten in der Nacht ist und die Leute in dieser Umgebung ziemlich empfindlich sind, was Lärm anbelangt, muss sie sich mit einem Augenrollen begnügen.
„Was ist denn los, junge Dame?“, hört sie eine dunkle, zittrige Stimme sagen. Sie dreht sich um und sieht, dass die Stimme einem alten Mann mit Gehstock und Pfeife im Mund gehört, der sich gerade, ohne zu fragen, neben sie gesetzt hat. Ihr Herz beginnt, schneller zu klopfen. Sie redet nicht gerne mit fremden Leuten, besonders nicht, wenn es ältere Männer sind. „Nichts, warum?“, entgegnet sie, legt den Notizblock zur Seite und setzt automatisch ihr Lächeln auf. Man könnte wirklich meinen, ihr ginge es gut. „Ihr Blick sagt etwas anderes“, murmelt der Mann und zerfurcht seine Stirn, währenddem er ihr direkt in ihre hellblauen Augen blickt. In seinem faltigen Gesicht liegt etwas Vertrautes, Ehrliches. Etwas, das sie geradezu dazu auffordert, ihm ihr Herz auszuschütten. Ihre Blicke treffen sich und sie weiss, dass sie ihm vertrauen kann. Mit zittriger Stimme erzählt sie von dem Chaos in ihrem Kopf, dem Schulstress und von ihrer Mutter, die gerade erst erfahren hat, dass sie Krebs hat. Als sie fertig ist, blickt sie peinlich berührt zu Boden. „Es tut mir leid, falls ich zu viel…“, beginnt sie sich zu entschuldigen, aber der Mann fällt ihr ins Wort: „Das ist doch kein Problem, ich habe sie ja förmlich darum gebeten“, sagt er grinsend. Und nun beginnt er zu erzählen, von seinen Erlebnissen, Reisen, Aktivitäten im Kampf gegen die globale Erwärmung, seinem Fischkutter und seinen sieben Enkelkindern, deren Namen alle mit einem „E“ beginnen. Mit jedem Wort, das über seine Lippen huscht, erhebt sich die Sonne ein kleines Stück mehr aus dem Ozean. Im sanften Licht der ersten Sonnenstrahlen philosophieren der alte Mann und die junge Frau über das Leben. „Wissen Sie“, meint der Alte, „wenn man beachtet, dass Sie noch so jung sind, so sind sie sich schon über viel mehr Dinge klar als es die meisten anderen Leute in ihrem Alter sind. Sie besitzen etwas Besonderes. Ich hoffe, Sie behalten es für immer. Manche Menschen, die es besitzen, verlieren es irgendwann, verstehen Sie?“ Sie nickt zögerlich. „Passen Sie gut darauf auf. Teilen Sie es nie auf, im Gegenteil…“ Die Frau lacht. „Ich soll es also zuteilen?“, fragt sie und zwinkert mit den Augen. Der Mann erwidert ihr Lachen. „Ja, so kann man es auch nennen.“
An einem neu angebrochenen Herbsttag sieht man zwei völlig verschiedene Menschen in der Morgendämmerung auf einer Parkbank sitzen, beide mit Augenringen von der langen Nacht, sie sitzen nicht nahe beieinander, doch trotzdem besteht zwischen ihnen eine besondere Verbindung. Dinge ändern sich, manchmal schneller, als man sich denken kann. Und währenddem man sie da so sitzen sieht, in sanftem Frieden schwelgend, dem leisen Rauschen des Meeres lauschend – so fragt man sich, warum es auf dieser Welt nicht mehr solche Zuteiler des Glücks gibt.

Hab' ich mal für einen Schreibwettbewerb geschrieben, bei welchem Wörter wie "Zuteiler" oder "zerfurcht" im Text enthalten sein mussten.. :)

 Re: Eine Begegnung
Autor:
 lynggs (Profil)
Datum:
 09.07.2014 15:46
Bewertung:
 

Gute Geschichte, in gutem Deutsch geschrieben. Hast du bei diesem Schreibwettbewerb etwas gewonnen?

Kleines Detail: Es ist von grosser Dunkelheit die Rede, da kann man wohl die Farbe der Augen nicht erkennen.

 Re: Eine Begegnung
Autor:
 Rolf (Profil)
Datum:
 10.07.2014 08:45
Bewertung:
 

Die junge Frau sitzt unter einer helle beleuchteten Strassenlaterne, die womöglich genug Licht abstrahlt, um Augenfarben erkennen zu können.

Mich irritiert eher das Wort "beleuchteten", was eigntlich anleuchten, anstrahlen bedeutet, nicht Licht brennen (So, wie du schriebst, wird die Strassenlatere angestrahlt). Es sollte eher "erleuchteten" heissen. oder "... im schein der Laterne, die die Parkbank unter ihr beleuchtet..."

Ansonsten auch : Gutes Deutsch!

 Re: Eine Begegnung
Autor:
 Madagaskarmond
Datum:
 21.06.2015 15:58
Bewertung:
 

Super geschrieben, tolles Thema. Kleine Verbesserung: da steht Sie war mochte schon immer... ;-)