Geschichte: Der Zwilling


 Der Zwilling
Buch:
  -
Autor:
 Nadja983 (Profil)
Datum:
 13.10.2015 18:16

Der Zwilling


Seit zwei Wochen war Paul nun auf der Wanderschaft. Es war Frühling und er hatte Glück mit dem Wetter. Es regnete kaum, die Tage waren schon fast warm und sonnig und die Nächte gar nicht mehr so kalt. Ab und an konnte Paul auf einem Hof, wenn es schon keine Arbeit gab, von einer mildherzigen Bäuerin eine Kelle Milch oder ein Stück Brot erbetteln, oder die Erlaubnis, in Scheune oder Stall zu übernachten. In der freien Natur war leider nicht viel essbares zu finden, zu dieser Jahreszeit gab es keine Beeren, keine Pilze, die Felder waren noch nicht bestellt und ein paar junge Triebe, vom Ackersaum abgezupft, machten einen hungrigen Wanderer nicht satt.

Ein Jahr zuvor war Pauls Vater plötzlich verstorben und sein Bruder Hans erbte das Land und die Schmiede. Hans nahm sich daraufhin eine Frau, die ihm ein Kind zur Welt brachte. Ein Auskommen für zwei Familien gab der Hof aber nicht her, auch Paul wollte nicht sein Leben lang Junggeselle bleiben. So schnürte er an einem sonnigen Morgen Ende März seinen Ranzen, verabschiedete sich von der Mutter, umarmte Hans ein letztes Mal und zog in die Welt hinaus, um anderswo sein Glück zu finden. Er hatte für ein paar Tage Lebensmittel und eine kleinere Menge Geld bei sich und hoffte, sich erst einmal als Wanderarbeiter durchzuschlagen. Falls dies nicht gelang, musste er sich wohl oder übel für den Militärdienst anwerben lassen. Den Stab in der Hand und die Habe leicht auf dem Rücken, machte er sich auf, um sein Geschick in die eigenen Hände zu nehmen.

Als Paul eines Mittags am Wegesrand auf einem Baumstamm rastete, hörte er plötzlich ein Rascheln hinter sich. Er drehte den Kopf über die Schulter und das, was er sah, konnte er nicht glauben. Hinter ihm stand ein Mann und das Unglaubliche war, der trug die gleichen Kleider wie er, hatte die gleichen schulterlangen blonden Haare, die gleichen blauen Augen, das gleiche Muttermal an der Wange … Paul konnte den Blick nicht mehr abwenden. Völlig verdattert öffnete er den Mund, um ihn zu fragen … ja, was fragen??
Schließlich unterbrach der geheimnisvolle Fremde das Schweigen: „Paul, Gott zum Gruße.“
Paul war zu keiner Antwort fähig.
„Ich bin dein Zwilling.“
„Z… Zwilling? Ich habe doch gar keinen Zwilling …“ Paul rang um Fassung.
„Doch, Paul!“ Der Fremde setzte sich neben ihn. „Fast jeder Mensch hat einen Zwilling.“
Nach einer weiteren Zeit des Schweigens stammelte Paul endlich: „Wo … Wo kommst du denn auf einmal her?“
„Ich war schon immer da.“ Der Zwilling lächelte geheimnisvoll. „Ich war schon bei dir, als du noch im Leibe deiner Mutter warst, aber normalerweise bin ich körperlos und unsichtbar.“
„Unsichtbar?“
„Ja. Nun habe ich aber für kurze Zeit die Fähigkeit erhalten, eine Gestalt anzunehmen, Deine! Schon öfter stand ich in deiner Nähe, während du schliefst, und jetzt möchte ich dir das Geheimnis meines Daseins offenbaren.“
Paul schluckte. Er wusste immer noch nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Fahrig rieb er sich mit den Händen über sein Gesicht. Er begann, die Arme des Fremden zu berühren, seine Schultern, sein Haar. Alles fühlte sich ganz normal an.
„So, jetzt wollen wir aber weitergehen“, meinte der Zwilling schließlich, stand auf und zog Paul von seinem Baumstamm hoch. Dessen Beine bewegten sich wie mechanisch, als sich die beiden Männer auf den Weg machten.

„Und warum haben fast alle Menschen einen Zwilling?“
„Jeder von uns muss in der Todesstunde seines Menschen dessen Seele auffangen, wenn sie aus dem sterbenden Körper heraus in Richtung Himmel schwebt, um sie für eine neuerliche Wiedergeburt dem beständigen Kreislauf zuzuführen. Zu diesem Zweck bin auch ich stets an deiner Seite.“
Paul wurde blass, über den Tod hatte er noch nicht so oft nachgedacht. „Wiedergeburt? Kommt man denn nach dem Tod nicht ins Paradies oder in die Hölle?“
„Der Pfarrer hat nicht immer recht.“
Schweigend und mit gesenktem Kopf lief Paul neben seinem Ebenbild her, der plötzlich und lautlos verschwand. Jetzt, wo er langsam zu sich selbst zurückfand, stand Paul mit seinem neuen Wissen und all den Fragen alleine da.

Nach und nach zog eine dunkle Wolkendecke über das Land, Paul bemerkte das erst, als ein Blitz vom Himmel schoss und kräftiger Donner zu hören war. Kurz darauf fielen die ersten dicken Regentropfen herab. Paul sah sich hektisch um und erspähte in der Ferne einen Hof. Er schüttelte alle Gedanken von sich und begann zu laufen. Patschnass kam er einige Minuten später dort an und schlug schwer atmend mit der Faust gegen die Tür. An ein Weiterwandern nach dem Wolkenbruch in solch einer durchnässten Kleidung war nicht zu denken. Nach einigen Sekunden öffnete die Bäuerin. Der Regen hatte inzwischen schon etwas nachgelassen. Sie musterte ihn von oben bis unten und erfasste sofort seine Misere: „Ein Zimmer kostet bei uns zwei Kreuzer, im Stall oder in der Scheune wird nicht übernachtet.“
„Zwei Kreuzer, das ist der doppelte Preis!“ Paul war empört.
„Wenn es dir nicht passt, kannst du gerne weiterziehen.“ Die Bäuerin grinste überheblich.
Notgedrungen willigte Paul ein und die Frau wies ihm einen dunklen Raum zu, der mit einem Bettgestell mit Strohsäcken und einer Decke ausgestattet war. Er zog seine nassen Sachen aus und wickelte sich in die Decke. Gleich darauf brachte ihm die Bäuerin das Abendessen. Ein Teller mit dünner Suppe, dazu eine Scheibe Brot und ein Krug Wasser. Nach einer schlaflosen Nacht, in der seine Gedanken kreisten, erwies sich das Frühstück als ähnlich karg und er war froh, den Hof mit dieser unfreundlichen und habgierigen Bäuerin wieder verlassen zu können. Seine Kleidung war über Nacht halbwegs trocken geworden und so machte er sich wieder auf die Wanderschaft.

Noch keine halbe Stunde gelaufen, bemerkte er, wie sich ihm ein Fuhrwerk von hinten näherte. Paul wollte gerade zur Seite treten, um dem Kutscher die Durchfahrt zu ermöglichen, als das Gespann plötzlich langsamer wurde und zwei Gestalten von der Pritsche herab sprangen.
„Da haben wir den Dieb“, schrie der eine und der Kutscher, der das Fahrzeug zum Stillstand gebracht hatte, stieg ab und versetzte Paul einen kräftigen Hieb mit der Faust, sodass dieser ins straucheln geriet. „Zwei Kreuzer zahlen und zwei Taler stehlen, das wirst du mir büßen!“
„Wenn ich zwei Taler gestohlen haben soll, dann müsste ich auch zwei Taler besitzen.“
„Genau, und die holen wir uns jetzt wieder.“
Sie bugsierten ihn auf die Pritsche des Wagens und begannen, ihm all seine Kleidungsstücke vom Körper zu zerren und auf das Genaueste zu durchsuchen. Paul wehrte sich nach Kräften, aber gegen die drei konnte er nichts ausrichten. Als Nächstes war sein Gepäck an der Reihe, aber es kamen nur ein paar von den kümmerlichen Münzen zum Vorschein, die ihm sein Bruder damals mitgegeben hatte. Von zwei Talern keine Spur. Wild fluchend versetzten ihm die drei noch ein paar derbe und schmerzhafte Tritte und warfen ihn unsanft von der Pritsche des Wagens zu Boden. „Du Mistkerl, dein Kleingeld werde ich als Entschädigung behalten“, schrie der Bauer und wendete sein Fahrzeug. Die Knechte sprangen wieder auf und bedachten ihn mit üblen Beschimpfungen, Drohungen und Beleidigungen. Wutentbrannt sammelte Paul seine Habe zusammen, die überall verstreut auf dem Weg herumlag, klopfte den Schmutz aus seinen Kleidern und zog sich an. Inzwischen war das Fuhrwerk schon wieder in der Ferne verschwunden. Paul hatte im Zuge dieser Behandlung gehörige Schrammen abbekommen, die er wohl noch einige Tage spüren sollte.

Plötzlich stand der Zwilling neben ihm, in seiner Hand klimperten zwei Taler.
„Also dir habe ich das alles zu verdanken!“ Paul war erbost.
„Nun ja, als du vergangene Nacht kurz eingeschlafen warst, habe ich mich in diesem Bauernhaus ein wenig umgesehen. Dabei habe ich die zwei Taler gefunden.“
Der Zwilling grinste, steckte ihm das Geld in die Tasche und die beiden liefen los.
Ohne Ursache und Wirkung zu bedenken, machte sich in Paul ein tiefes Gefühl der Genugtuung breit.
„Wie ist das mit der Wiedergeburt, wie oft wird man denn wiedergeboren?“
„Das kann ich dir nicht so genau sagen, wohl um die zehntausend Mal.“
„Zehntausend Mal?“ Paul blieb der Mund offen. „Und wie viele Leben hatte ich schon?“
„Du bist jetzt in Nummer achthundertvierundsiebzig.“
„Das heißt, ich habe noch über neuntausend Leben vor mir?“
„So sieht es aus.“
Nach einer ganzen Weile fragte Paul: „Wie erging es mir denn so während meiner achthundertdreiundsiebzig Leben?“
„Etliche Male bist du als kleines Kind gestorben, dreimal sogar schon im Leibe deiner Mutter. Zwei Mal war es der Henker, der dein Leben beendete. Sehr häufig ereilte dich der Tod auf den Schlachtfeldern, manchmal haben dich die Pest oder andere Krankheiten jung dahingerafft. Es kam auch vor, dass du sehr alt wurdest, aber immer warst du ein armer Kerl und nur ein einziges Mal der Sohn eines reichen Stammesfürsten.“
Kaum war dies ausgesprochen, war der Zwilling auch schon verschwunden. Paul schwirrte der Kopf, sein ganzes Weltbild war in den letzten vierundzwanzig Stunden ins Wanken geraten.

Gegen Abend erreichte Paul eine kleine Stadt. Die ganzen Wochen der Wanderschaft hatten an seinen Kräften gezehrt. Er quartierte sich in einem Gasthof ein, bestellte sich ein reichliches Mahl und nahm ein heißes Bad. Nachdem er zwölf Stunden in einem weichen sauberen Bett, tief und traumlos geschlafen hatte, fühlte er sich am nächsten Morgen deutlich besser. Bei einem Krämer deckte er sich mit neuer Kleidung und neuen Schuhen ein, sein altes Gewand, nicht zuletzt durch die Behandlung des Bauern und der beiden Knechte arg in Mitleidenschaft gezogen, gab er einem Lumpensammler. Jetzt hatte er immer noch mehr als einen Taler übrig. Paul gestand sich ein, dass ihm das freie Wanderleben gefiel, vor allem jetzt, wo er etwas Geld in der Tasche hatte. Er ließ das Städtchen hinter sich und erreichte gegen Abend, ohne den Zwilling erblickt zu haben, einen Hof, in dem er für einen Kreuzer akzeptabel untergebracht und verpflegt wurde.

In den folgenden Tagen war der Himmel schwer mit grauen Wolken behangen, es war kalt und es regnete. Paul war froh über seine neue Kleidung, die ihn größtenteils trocken hielt. Er nahm sich vor, weiterhin sparsam zu bleiben und den einen ganzen Taler, den er noch nicht angebrochen hatte, so lange wie möglich aufzusparen. Schon seit Tagen war ihm der Zwilling nicht mehr erschienen, wo doch so viele Fragen auf seiner Seele lasteten.
Die Regentage gingen vorüber, es wurde wärmer, überall sah man junges Grün, und auf den Äckern links und rechts des Weges spitzte die Saat aus dem Boden.
„Du hast gesagt, fast jeder Mensch hat einen Zwilling, was ist mit denen, die keinen haben“, fragte er, als sein Ebenbild ganz überraschend neben ihm aufgetaucht war.
„Die finden nach ihrem Tode die ewige Ruhe.“
„Und was ist besser, ewige Ruhe oder noch einmal neuntausend Leben?“
„Das kann ich dir nicht beantworten.“

Die Tage verstrichen und der Zwilling machte sich rar. Einmal täglich leistete sich Paul eine Mahlzeit bei einem Bauern, die Nächte verbrachte er durchwegs im Freien. Es war schon Mai, als er endlich eine Anstellung fand. Ein relativ großer Hof mit vielen Pferden. Der Stallmeister, ein kräftiger, dicker Mann, erklärte ihm, er habe seinen Schmied letzte Woche hinausgeworfen, weil der zu faul war. Die Pferde bräuchten neue Eisen und ansonsten seien viele Gerätschaften zu reparieren. Als Lohn wurden zwei Kreuzer pro Tag vereinbart, dazu freie Unterkunft und Verpflegung. Da es schon fast Abend war, bezog Paul seine Kammer und am nächsten Morgen machte er sich sogleich an die Arbeit. Es bereitete ihm große Freude, endlich wieder den Hammer zu schwingen. Der Stallmeister war zwar unfreundlich, die Verpflegung aber in Ordnung. Am Abend des vierten Tages teilte man ihm mit, dass er seine Arbeit zur Zufriedenheit erledigt hätte, jetzt aber würde man seine Dienste nicht mehr benötigen und am nächsten Morgen solle er seinen Lohn erhalten.
Nach dem Frühstück übergab ihm der Stallmeister drei Kreuzer.
„Es waren zwei Kreuzer pro Tag ausgemacht, dazu noch freie Verpflegung und Unterkunft!“ Paul protestierte vehement.
Nun wurde der Stallmeister laut: „Wenn das so ausgemacht war, dann habe ich mich nun eben anders entschieden und für fünf Übernachtungen muss ich auch fünf Kreuzer verrechnen! Entweder, du ziehst deiner Wege, oder ich werde handgreiflich!“ Er setzte seine Drohung unvermittelt in die Tat um, packte Paul am Kragen und am Hosenbund, schob ihn zur geöffneten Türe hinaus und schleuderte ihn in den Staub. Zuletzt warf er ihm die drei Kreuzer hinterher. Paul sammelte das Geld ein und machte sich davon.

Noch immer hatte er Tränen in den Augen vor Wut, als nach einer halben Stunde der Zwilling neben ihm auftauchte. Er reichte Paul eine Schachtel mit Zündhölzern. „Geld habe ich keines gefunden bei ihm, aber das kann ich dir geben.“
Paul blickte ihn fragend an und bemerkte dabei, dass hinter ihnen eine Rauchsäule in den Himmel stieg. „Du hast sein Haus angezündet?“
„Den Stall. Als er es bemerkte, hatte er alle Hände voll zu tun, die Pferde herauszubringen. Die haben sich wahrscheinlich in alle Winde zerstreut.“
Paul empfand eine grimmige Freude und erst viel später begriff er, dass in erster Linie der Stallbesitzer den Schaden erlitt, nicht der Stallmeister.
„Bist du mir in einem früheren Leben auch schon erschienen“, wollte er nach einer Weile von seinem Zwilling wissen.
„Nein, während der zehntausend Leben hat jeder Zwilling nur ein einziges Mal die Möglichkeit, sich seinem Menschen zu zeigen.“ Der Zwilling wechselte das Thema. „Hast du dir schon überlegt, was du in deinem jetzigen Dasein erreichen möchtest? Vielleicht strebst du nach Reichtum und Macht? Möglicherweise könnte ich dir etwas helfen.“
Paul wusste nicht, was er darauf antworten sollte, zu überraschend kam dieses Angebot.
„Oder zieht es dich zu den Frauen? Suchst du Ruhm und Ehre?“ fragte der weiter. „Vor ein paar Hundert Jahren wünschte sich einmal ein Mann von seinem Zwilling, er wolle unvergessen bleiben. Das ist er bis heute, vielleicht kennst du ihn auch? Sein Name ist Michel de Notre Dame, genannt Nostradamus.“
Paul erinnerte sich dunkel und erschrak. Von dem hatte der Pfarrer einmal in seiner Predigt erzählt, er stünde mit bösen Mächten im Bunde. „War das nicht dieser Frevler mit den unheilvollen Vorsehungen?“
Der Zwilling verschwand, ohne seine Frage zu beantworten.

Paul konnte nach diesem Gespräch kaum noch klar denken. Was wollte ihm der Zwilling damit sagen? Macht und Reichtum? Ruhm und Ehre? Danach stand ihm nicht der Sinn.
Tief in Gedanken ging er voran. Als er nach einer Weile den Kopf hob, bemerkte er eine Gestalt, die nur wenige Dutzend Schritte vor ihm lief.
Sieht aus, als wäre das auch so ein Wanderer wie ich, dachte Paul und schritt aus, um den Abstand zu verringern.
Kurze Zeit später hatte er ihn eingeholt. Der andere, der Pauls Kommen vernahm, drehte sich um und die beiden blickten sich in die Augen.
Er hieße Stephan, sei Zimmermann, stamme aus einem Dorfe, südlich der großen Berge und sei schon seit zwei Jahren auf der Wanderschaft, erzählte er.
Die beiden Schicksalsgenossen freundeten sich rasch an. Jetzt hatte Paul Ablenkung und war nicht mehr ständig seinen Gedanken ausgeliefert.
„Sobald einer von uns beiden Arbeit findet, trennen sich unsere Wege wieder“ meinte Stephan, als sie schon zwei Tage zusammen gewandert waren. „Bis dahin können wir noch alles teilen.“
„Ja“, antwortete Paul. Er war der jüngere und erhoffte sich von Stephans Begleitung nützliche Kenntnisse für das Leben unterwegs.

Weitaus wertvoller war ihm Stephans Gesellschaft. Es war deutlich angenehmer, wenn man abends zu zweit das Lager aufschlug oder sich eine kleine Mahlzeit bereitete. Einmal fand Stephan sogar Arbeit, aber nur für einen Tag. Den konnte Paul abwarten.
Inzwischen war es Sommer, das Wetter herrlich, und die Tage lang. Jeden Abend zündete Stephan ein kleines Lagerfeuer an. Paul hatte sich das alleine nie getraut, wer weiß, wen man da nachts auf sich aufmerksam machte, mit ihm aber war das kein Problem. Stephan hatte ein kleines Kartenspiel dabei, manchmal würfelten sie oder sangen zusammen Lieder ...
Die Tage vergingen wie im Flug. Ziemlich lustig fand Paul Stephans Sprache, der nach Tiroler Art das “ch“ sehr überbetonte. Mit der Sprache war das sowieso eine eigenartige Geschichte für Paul. Als er damals von zuhause ausgezogen war, sprachen am ersten Tag noch alle Leute genauso, wie er selbst. Am zweiten Tag gab es schon ganz feine Unterschiede. An Tag drei und vier hatten manche Dinge bereits andere Namen, oder es wurden Wörter anders betont, und jetzt musste er sich bemühen, dass er die Menschen überhaupt noch verstand.

Eines Morgens wachte Paul auf und bemerkte, dass Stephan fehlte, mehr noch, seine ganze Habe war weg. Er musste in der Nacht, während er selbst schlief, heimlich alles zusammengepackt haben und alleine weitergezogen sein. Seltsam, warum nur? Paul kontrollierte eilig seine Sachen und wurde blass. Der Taler war verschwunden. Er konnte gar nicht begreifen, wie Stephan Wind davon bekommen konnte. Er hatte die Münze nie erwähnt. Die hätte sie beide im Notfall über den ganzen Winter bringen können. Auch Paul packte zusammen. Er war maßlos enttäuscht. Fix machte er sich in einem nahen Bach etwas frisch und trank zwei Handvoll Wasser. Wenn ich mich beeile, hole ich ihn vielleicht noch ein, dachte er sich. Als sich jedoch zehn Minuten später der Weg gabelte, wurde die Sache schon schwierig.

Plötzlich stand der Zwilling neben ihm. Den hatte er seit vielen Wochen nicht mehr gesehen und kaum noch an ihn gedacht. Er war ja ständig mit Stephan zusammen und in dessen Gegenwart konnte der Zwilling schlecht erscheinen. Den Taler hatte er in der offenen Hand.
„Wie hast du den bekommen?“ fragte Paul.
„Ich habe ihn erschlagen, von hinten, mit einem Knüppel, der am Boden lag.“
„Was, erschlagen?“
„Er liegt in einem Dickicht und wird wohl nicht so schnell gefunden werden.
Paul war geschockt. Gerne hätte er auf den Taler verzichtet, wenn er nur den Stephan dafür zurückbekommen hätte. „Das hättest du nicht tun dürfen. Er war mein Freund, mein einziger Freund außer dir.“
„Ein feiner Freund. Was ist denn das, Freundschaft? Ein sehr trügerisches Gut! Du darfst dich niemals darauf verlassen! Sobald der Eine einen Krümel mehr hat, kommt bei dem Anderen Neid auf. Das ist normal. Genauso ist es mit der Liebe. Wenn jemand vorgibt, dich zu lieben, dann weißt du nicht, ob das morgen oder übermorgen noch immer so ist. Wie leicht wird aus Liebe Hass. Solche Gefühle dürfen nie Grundlage deines Handelns werden.“
„Und deine Grundlagen sind Rache und Vergeltung.“
„So ist das auf der Welt, fressen oder gefressen werden.“
„Ich möchte aber ein guter Mensch sein.“
„Gut und Böse, was soll das sein? Ist eine Katze böse, wenn sie mit einem jungen Vogel spielt, ihn dabei tötet und nicht einmal frisst, weil sie nicht hungrig ist? Nein, sie ist dabei im Recht, weil sie die stärkere ist. Diese beiden Wörter sind Erfindungen der Menschen. Das sind falsche Entscheidungsgrundlagen. Mit Gut und Böse kommst du nicht weiter im Leben. Stephan war weder gut, noch böse, als er den Taler stahl.“
Der Zwilling war wieder verschwunden.

Es war Sonntag, als Paul wieder mal ein Dorf durchquerte. Die Sonne schien und irgendwie wirkte diese Ansiedlung hell und freundlich auf ihn. Linker Hand entdeckte er eine Schmiede. Er ging darauf zu und klopfte an. Niemand öffnete, doch als die Kirchenglocken zu läuten begannen, war ihm klar, der Gottesdienst war gerade zu Ende und gleich würden die Besitzer auftauchen.
Keine zwei Minuten später kam eine junge Frau auf ihn zu, die links und rechts je ein kleines Mädchen an der Hand führte. Paul sprach sie an, um nach Arbeit in der Schmiede zu fragen. Sogleich rannen ihr Tränen an den Wangen herab. Ihr Mann sei schwer vom Pferde gestürzt und könne jetzt kaum noch das Bett verlassen. In der Schmiede türme sich die Arbeit und sie könne dringend jemanden gebrauchen. Kost, Unterkunft und fünfzehn Kreuzer die Woche wolle sie ihm geben, wenn er nur tüchtig arbeite. Der Herr Graf, der einen Auftrag erteilt hatte, sei schon ungnädig.
Paul bezog sein Zimmer, unterhielt sich mit dem Schmied an dessen Krankenbett über die anstehenden Arbeiten und am Montag Früh stand er an dessen Amboss.

Jetzt kam er endlich auf andere Gedanken. Das Schmieden bereitete ihm Freude und ging gut von der Hand. Die Werkstatt lag inmitten des Dorfes und täglich kamen Nachbarn mit einem zu beschlagenden Pferd, einem ausgeleierten Scharnier oder einer Sense, die fachmännisch gedengelt werden musste. Kurzum, Paul war rasch beliebt und anerkannt. Außerdem war noch der Auftrag des ungeduldigen Grafen zu erledigen, ein aufwändig verziertes Eingangstor. Das sollte unbedingt noch vor dem Winter fertig werden und die Tage wurden schon merklich kürzer. Er verrichtete die Arbeiten zur Zufriedenheit aller und war in der Schmiede anzutreffen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Während sich aber des Abends die anderen Handwerker in der Schänke trafen, ging Paul in seine Kammer und sinnierte vor sich hin:


Noch einmal neuntausend Leben …?
Oder ewige Ruhe …?
Hätte er jetzt die einmalige Möglichkeit, den Kreislauf der Wiedergeburt zu durchbrechen …?
Wollte er Geld und Macht …?

Während Paul in der Werkstatt mehr und mehr an Routine gewann, erholte sich der Schmied nur schleppend. Er musste bei seinem Sturz irgendwelche inneren Verletzungen davongetragen haben und sonderte regelmäßig Blut ab. Aderlass und Kräuter Umschläge halfen nicht. Abends bekam Paul ab und an Besuch von seinem Zwilling. Er konnte inzwischen viel unbefangener mit ihm umgehen als zu Beginn.
„Ist Gott wirklich allmächtig,“ fragte er ihn einmal. „Warum gibt es denn so viel Unglück auf der Welt?“
„Das sind sehr schwierige Fragen. Alles weiß ich auch nicht und das, was ich weiß, darf ich nicht preisgeben. Die Religionen sind von Menschen gemacht. Du musst dir Gott und den Teufel als Spielkumpane vorstellen, die sich gegenüber sitzen und würfeln. Ist der Teufel gerade im Vorteil, herrschen Not, Krieg, Krankheit und Elend auf der Welt und wenn Gott das bessere Ende für sich hat, gedeihen die Felder, die Menschen erleben Glück und Wohlstand. Barmherzig, oder am Schicksal der Menschen interessiert ist keiner von beiden. Euer Wohl und Wehe hängt einzig von diesem Spiel und dessen Verlauf ab! Alles was der Pfarrer erzählt, ist Humbug.“
Das war schwer zu verstehen für Paul.

Sein Verhältnis zu der Frau des Schmiedes war ein sehr herzliches. War eine dritte Person zugegen, gingen sie sehr förmlich miteinander um. Waren sie alleine, duzten sie sich. Die beiden kleinen Mädchen liebten Paul abgöttisch und trieben sich den halben Tag in der Werkstatt herum.
Im Laufe der Wochen besserte sich der Zustand des Schmiedes merklich. Inzwischen konnte er schon ein paar Schritte alleine in seinem Zimmer auf und ab gehen. Einmal unterhielt sich Paul abends mit seinem Zwilling darüber und hegte die Befürchtung, dass er im Falle dessen vollkommener Genesung den Platz in der Schmiede räumen müsse. Er hoffte, dass dies erst im Frühjahr der Fall sein würde, denn im Winter auf Wanderschaft, das konnte er sich nur schwer vorstellen.

Am nächsten Morgen lag der Schmied tot in seinem Bett. Allerorts herrschte große Bestürzung, jetzt, wo man auf seine baldige Gesundung hoffen durfte. Abends, in seiner Kammer stellte Paul den Zwilling zur Rede, als dieser zu Gast war. „Ich bin mir fast sicher, du hast ihn umgebracht.“
„Natürlich. Ich habe ihn mit dem Kissen erstickt. Wenn du da schon selber nicht darauf kommst … Hätte er sich erholt, hättest du weiter ziehen müssen. So aber heiratest du seine Frau und hast deine eigene Schmiede.“
„Aber er war unschuldig, er hat doch gar nichts verbrochen.“
„Darum geht es doch gar nicht. Das sind die Naturgesetze, der stärkere gewinnt! Die einzig gültige Regel auf dieser Welt, seit Anfang an, bis in alle Ewigkeit! Was glaubst du, wie viele Menschen, die in ihrem Leben zu Reichtum gekommen sind, sich über Moral und Anstand hinweg gesetzt haben? Fast alle! Merke dir das! Reiche Menschen sind selten gut. Die haben alle ihre dunkle Seite und etwas zu verbergen. Das ist normal!“
„Du bist nicht mehr mein Freund.“ Paul wandte sich ab und verließ den Raum.

Am nächsten Tag, noch bevor der Totengräber mit seinem Werk begann, betrat ein Gendarm das Haus, begutachtete die Leiche und stellte Fragen. Für eine Gewalttat fehlte allerdings jeglicher Beweis, und somit wäre für Pauls Zukunft alles geregelt gewesen. Allerdings gab es da ein Problem, das Getuschel der Leute. Schon zu des Schmiedes Lebzeiten hatten missgünstige Stimmen im Dorf unter vorgehaltener Hand der Frau Untreue unterstellt. Das konnte Pauls Beliebtheit noch keinen Abbruch bescheren, jetzt aber hatten es alle schon immer gewusst … Paul bemerkte die Veränderung der Menschen sofort. Kaum einer grüßte noch, niemand hatte mehr einen Auftrag für ihn, obwohl er der einzige Schmied war und die Werkstatt normalerweise florierte. Die beiden kleinen Mädchen berichteten, dass die Eltern ihrer Spielkameraden nur noch von dem Mörderhaus sprachen. Die Lage wurde unerträglich, es musste eine Entscheidung her.

„Es gibt nur diese Möglichkeit“, meinte Paul, als er und die Witwe zusammen beratschlagten, was zu tun sei. „Ich würde dich sehr gerne heiraten und zwar um deinetwillen, nicht nur wegen der Werkstatt. Aber wir wären unser ganzes Leben lang diesem Verdacht ausgesetzt. Deshalb muss ich gehen. Nur dann haben wir kein Motiv für diesen Mord, der uns unterstellt wird.“
„Aber Paul, wie soll ich ohne die Einkünfte der Schmiede die Kinder und mich durchbringen, und wie willst du, ohne ein Dach über dem Kopf, den Winter überstehen?“
„Wenn niemand dem Schmied Aufträge erteilt, hast du auch keine Einkünfte.“
„Vielleicht wird ja alles wieder besser.“
„Nein, das glaube ich nicht, und falls doch, der Verdacht bleibt.“
Sie unterhielten sich noch die ganze Nacht, und als der Morgen graute, schnürte Paul sein Bündel, überließ der Witwe seine gesamte Barschaft, bestehend aus dem immer noch vorhandenen Taler und den ganzen Wochenlöhnen, von denen er noch nicht einen einzigen Kreuzer ausgegeben hatte, umarmte sie, und zog hinaus.

Es war schon Ende Oktober und Paul war den zweiten Tag unterwegs. In diese Lage wollte er auf keinen Fall geraten, ohne Geld auf der Wanderschaft und den Winter vor Augen. Noch ein oder zwei Mal konnte er sich eine Kleinigkeit verdienen, doch dann fiel der erste Schnee und es schneite tagelang ohne Unterlass. Das Wandern in den Wäldern und auf den Fluren erwies sich als schwierig, teilweise sank er beim Gehen bis zu den Schenkeln ein. Am besten war es noch über freien Flächen, wo der Wind den Großteil der weißen Pracht verblies. Da war es ein großes Glück, als er am Rande eines Waldes eine leere Schäferhütte entdeckte.

Mit Händen und Füssen schob er die Schneemengen beiseite und stemmte die Türe auf. Innen gab es eine gemauerte Feuerstelle mit Kamin und daneben lagen ein paar aufgeschichtete Holzscheite. Er besaß immer noch die Zündhölzer von dem Zwilling, mit denen der damals den Stall angezündet hatte. Paul begann, die Unterkunft gründlich zu durchsuchen und fand ein kleines Stückchen Draht. Mit dem machte er sich sofort auf, durch den hohen Schnee in den Wald. An einer geeigneten Stelle bog aus dem Draht eine Schlinge und legte diese aus. Auf dem Rückweg zur Hütte sammelte er Holz. Wenn das Feuer erst einmal brannte, durfte es nicht mehr ausgehen, denn die Anzahl der Zündhölzer war begrenzt. Paul witterte die Chance, hier den Winter zu überstehen, wenngleich die Nahrungsbeschaffung schwierig werden dürfte, nur mit einer einzigen Schlinge und einem kleinen Jagdmesser. Aber wenigstens, ein Anfang war gemacht. Für diesen Abend hatte er noch eine kleine Mahlzeit in seinem Gepäck, aber danach war er auf Jagdglück angewiesen, wenn er nicht hungern wollte. Von seinem Zwilling hatte er seit dem Tode des Schmiedes nichts mehr gehört und er war froh darüber.
In seiner Hütte war es jetzt behaglich warm. Paul bereitete sich aus seinen abgelegten Kleidungsstücken ein Lager und vor dem Einschlafen dachte er noch einmal an die schöne Zeit mit Stephan zurück. Paul seufzte. Dass das so ein schlimmes Ende nehmen musste.

Der nächste Tag war kalt und klar. Paul hatte tatsächlich Glück mit seiner Schlinge. Ein kleiner Hase hatte sich darin verfangen und lag jetzt steif gefroren in der Falle. Er legte die Schlinge erneut aus und kehrte mit seiner Beute zurück. Er fand einen zerbeulten Topf, den er mit Schnee befüllte. Jetzt nahm er den Hasen aus und kochte das Fleisch zusammen mit den essbaren Innereien. Die restliche Brühe trank er aus. Gegen Nachmittag kontrollierte er erneut die Schlinge. Dieses Mal war sie leer. Auf dem Rückweg zu seiner Hütte passierte dann das Unglück. Er rutschte auf einem glatten Stück Boden aus und fiel so unglücklich und hart auf einen Baumstumpf, der nur minimal mit Schnee überzogen war, dass er sich dabei den rechten Oberschenkel brach. Nur zehn Schritte von der Unterkunft entfernt, schleppte er sich hinein. Die Schmerzen waren unerträglich. Inzwischen hatte er einen ansehnlichen Holzvorrat angesammelt, doch Paul machte sich nichts vor. Wenn jetzt kein Wunder geschähe, bedeutete das sein Ende.

Drei Tage reichte sein zuvor gesammeltes Holz. Paul lag auf seinem provisorischen Lager und litt unter Auszehrung, Fieber und Schmerzen. Gerade, als er das letzte Holzstückchen in die Flamme legen wollte, erschien der Zwilling.
„Siehst du, das hast du jetzt davon. Ich habe alles für dich geebnet, du hättest dich in das gemachte Nest setzen können. Leicht hättest du den Pfarrer mit einer milden Gabe überreden können, dass er bei seiner nächsten Predigt den Leuten ins Gewissen redet. Du warst ja wirklich unschuldig. Nichts ist so wechselhaft wie die Volksmeinung. Aber du wolltest ja nicht ...“
„Nein. Das wollte ich auch nicht. Nicht auf Kosten eines Mordes und in diese unbarmherzige Welt, die du mir erklärt hast, möchte ich nicht wiedergeboren werden.“
Paul schloss die Augen und ignorierte ab jetzt den Zwilling. Nachdem das letzte kleine Flämmchen in seinem Ofen erlosch, wurde es in der Hütte schnell sehr kalt und Paul ergab sich in sein Schicksal.
In den frühen Morgenstunden machte sich seine Seele auf, den Körper zu verlassen. Der Zwilling stand schon parat und griff im richtigen Moment zu. Er ging, mit der Seele in den Händen, körperlos, wie er war, gleich durch die Hüttenwand hindurch ins Freie. Dort betrachtete er sich das gute Stück noch einmal, runzelte die Stirn und ließ es in den Himmel schweben

 Re: Der Zwilling
Autor:
 Ruksan (Profil)
Datum:
 14.10.2015 15:31
Bewertung:
 

De Geschichte ist spannend aber ein bisschen zu lange.
aber du hast Fantasie

 Re: Der Zwilling
Autor:
 lynggs (Profil)
Datum:
 14.11.2015 09:41
Bewertung:
 

Diese Geschichte ist auch in leselupe.de zu lesen wo sie meines Erachtens zu hart kritisiert wird. Hast du sie auch dort platziert oder dort abgeschrieben? Dort heisst der Autor ThomasQ und du bist hier im Profil weiblich ohne nähere Angaben.
Für mich ist es eine gute Geschichte, wenn sie von einer echten Schülerin geschrieben wurde. Da habe ich für alle Mängel Verständnis und wenn du sie wirklich selbst geschriebn hast dann ein Lob für deine Ausdauer, eine so lange Geschichte zu erfinden.