Geschichte: Der schwerste Gang


 Der schwerste Gang
Buch:
  -
Autor:
 lehar (Profil)
Datum:
 22.02.2016 21:48

Ihre Sicht:

Anfangs waren es nur einige Leute. Ich konnte sogar viele davon zuordnen und kannte sie. Doch je näher die eingeladene Zeit rückte, desto mehr Leute kamen. Neue, unbekannte Gesichter, manche, die ich vielleicht mal flüchtig gesehen habe und solche, die ich noch nie gesehen habe. Ich stand daneben und versuchte nicht in Panik zu geraten. Schliesslich ging es weder um mich, noch meine Familie oder jemanden, der mir sehr nahe stand. Nein, schlimmer es ging um die Familie meines besten Freundes, meines Geliebten, meines Mannes. Irgendein Idiot, zumindest erscheint er mir im Nachhinein so, hat mal gesagt, geteiltes Leid ist halbes Leid. Wie kam dieser Mensch auf sowas? Ich hatte nicht nur meinen Mann neben mir stehen, sondern seine ganze Familie. Seine Kinder, seine Schwester und deren Familie, sowie seine Eltern.
Als dann die geladene Zeit da war, wusste ich nicht, ob die Kirche überhaupt gross genug war. Viel mehr machte ich mir aber um meinen Geliebten Sorgen. Welche Gedanken mochte er haben? Wie geht es ihm? Was kann ich tun? Nichts, man ist gezwungen, daneben zu stehen und zuzusehen.
Zuzusehen wie er einen geliebten Menschen beerdigen muss und das nun schon zum zweiten Mal. Ich stehe daneben und mir geht so vieles durch den Kopf, dennoch bleibt mir nur ein Gedanke, wie lindere ich seinen Schmerz? Nachdem die ersten Worte der Pfarrerin gesprochen sind, wird gebeten, den Verstorbenen zu Begleiten an seine letzte Ruhestätte. Dort stehe ich wieder neben all diesen Menschen, die mir so nahe gekommen sind und all diesen vielen mir Unbekannten. Die Urne wird hinabgesenkt und inzwischen bin ich der Meinung, dass irgendeine Regung meinen Mann zusammenbrechen lassen sollte. Es kann doch nicht sein, dass sein Zittern und das zwischendurch Abwischen seiner laufenden Nase, sowie die leicht geröteten Augen alles ist, was in in diesem Moment ausmacht. Gleichzeitig schimpfe ich mit mir, wie kann ich sowas nur denken? Er wird vermutlich tausend Gedanken haben und die grösste Mühe nicht darunter zusammenzubrechen. Denn er weiss, dass es mir sehr wahrscheinlich nicht viel besser geht als ihm.
Nach einigen kurzen Abschiedsworten und den vielen noch nicht erhaltenen Beileidsbekundungen, wird gebeten in die Kirche und in das in der Nähe und vorbereitete Kirchgemeindehaus zu wechseln. Die Sigristin geleite uns durch einen Seiteneingang zur ersten Reihe der Kirchenstühle. Vorne aufgestellt, die Kerzen, sein Bild und das Blumenherz. Es ist schön, weisse Rosen und Margeriten umrandet von leichtem Efeu geben ihm eine stillschweigende Eleganz. Nach den eröffnenden Worten und dem ersten Psalm wird der Lebensweg unterstrichen von zwei Liedern vorgetragen. Kaum beginnt das erste Lied, sind die Gedanken wieder da. Was wohl in ihm vorgeht? Wie kann ich ihm helfen? Was wenn es meine Familie wäre? Doch die letzte Frage darf ich mir gar nicht erst stellen. Denn hier geht es um meinen Mann und seine Familie, deshalb auch um meine. Der Trauerdienst neigt dem Ende zu und ich habe keine Ahnung wohin mit meinen Gefühlen. Es kommt mir vor, als hätte ich durch seine Hände, die ich die ganze Zeit über hielt, seine Gefühle in mich aufgenommen. Wohin also jetzt mit all diesen Emotionen. Schreien, weinen, lachen oder einfach durchbeissen? Ich entschied mich für das letzte, schlussendlich braucht mich mein Mann, da kann ich es mir nicht leisten zusammenzubrechen, egal in welcher Art. Was ist aber, wenn es genau das wäre, was er bräuchte? Bevor die geladene Gesellschaft in die Beiz wechselt, kehre ich mit meinem Mann zum Grabstein zurück. In der Zwischenzeit wurden alle Kränze und Blumen dorthin getragen und das Grab geschlossen und dekoriert. Diese Still und Endlichkeit, die entsteht, wenn man vor dem Merkmal eines Endes steht, ist erdrückend. Nein niederschmetternd, denn sie ist die Bestätigung des Endgültigen. Nur ein kurzer Moment noch, dann der Händedruck und seine leisen Worte: "Es ist okay, wir können gehen." Nein, nichts ist okay, wie sollte es auch? Es wird nie wieder okay sein.
Der schwerste Gang; wenn du dich das letzte Mal, gerade frisch nach allem davon laufen musst, weil du sonst das Gefühl hast, nie mehr wieder gehen und ihn verlassen zu können. Du weisst, du kommst in Besuchen, doch es wird nie wieder, dasselbe sein wie zuvor.

Seine Sicht (wobei hier gesagt sein muss, dass dies nur eine Überlegung meiner Seite ist, da ich nicht in den Kopf sehen kann):

Hart, ist noch untertrieben. Es ist nicht hart, es ist nicht machbar. All diese Leute kommen und bestätigen mir etwas, dass ich nicht wissen und wahrhaben will. Ich bin froh, steht sie neben mir, meine Freundin und meine Partnerin. Sie gibt mir Halt und gleichzeitig treibt sie mich vorwärts. Vorhin, lenkte sie mich neben meine Eltern, obwohl ich das erst nicht wollte. Ja, ich bin auch seine Familie, aber das würde mir nur mehr noch bestätigen, dass er nicht mehr da ist. Solange sie an meiner Seite bleibt, kann ich es vielleicht aushalten. Aber wie soll ich ihr jemals von meinen Gedanken erzählen. Die Fragen, die mich quälen, die Schuldgefühle und die Wut die in mir brodelt. Ich weiss, ich muss funktioniert, dass musste ich schon das erste Mal. Doch jetzt ist es etwas anderes als damals. Ich habe nicht nur meine Kinder, sondern noch meine Schwester und meine Eltern. Vor allem aber sie, mein Sonnenschein. Für sie muss ich stark sein, denn sie war es für mich und ich fühle mich unwohl, wenn sie mich so schwach sieht. Die Worte der Pfarrerin erinnern mich an alles. Es öffnet Wunden, die ich dachte, wären inzwischen ein wenig verheilt. Es kommt alles hoch und ich kann kaum atmen, aber ich muss. Das sage ich mir inzwischen wie ein Diktat auf. Ich muss, ich muss, ich muss, anders geht es nicht. Ständig fragt sie mich, ob alles in Ordnung ist. Schaut mich aus traurigen Augen an. Sie spürt mein Leiden und möchte es gerne abnehmen, aber das kann ich ihr nicht aufbürden. Sie ist noch so jung. Eigentlich dürfte sie nicht etwas in dieser Art erleben müssen.Deshalb verschweige ich ihr lieber, dass es in mir klafft, dass alles offen ist und ich nicht weiter weiss. Immer wieder auch jetzt beim Grab, diese Leute, die mir die Hand schütteln und mir ihr Beileid bekunden. Ich kann es nicht mehr hören. Ich will nicht wissen, dass es zu Ende ist. Doch die Kirche ist das Schlimmste. Es ist kaum auszuhalten. Diese Songs, sein Bild, diese Stimmung. Es erdrückt mich fast und ich weiss, dass ich es ihr nicht leicht mache. Doch wenn ich jetzt zusammenbreche, dann werde ich nie wieder aufstehen können. All diese Gedanken, sie zerstören einem fast. Warum Sie damals? Warum Er heute? Warum ich? Hätte ich etwas ändern können? Wenn er noch ein wenig durchgehalten hätte, dann hätten die Ärzte jetzt vielleicht eine Lösung? War es so vorgesehen und wenn ja, wieso? Was bringt das mir? Der Trauerdienst ist zu Ende und die geladenen Gäste wechseln langsam den Ort. Sie fragt mich, ob ich das Grab noch einmal sehen will. Ich sage ja, denn danach werde ich für eine Weile nicht herkommen können. Ich muss, das alles erst irgendwie verarbeiten können. Vor dem Grab dann der Beinahe-Zusammenbruch. Ich sage ihr es sei Okay, denn ich will nur noch eins, hier weg. Es ist als würden sich die Szenen von damals vor meinem inneren Auge erneut abspielen. Das ist zu viel. Mein schwerster Gang, das Grab meines Bruders zu verlassen und damit auch die Vergangenheit. Was kommt als nächstes, ich weiss es nicht? Einfach funktionieren, bis alles wieder läuft, so wie es dass vorher auch getan hat. Dann existiere ich wieder.

 Re: Der schwerste Gang
Autor:
 lynggs (Profil)
Datum:
 28.02.2016 16:37
Bewertung:
 

gute Idee, das mit den 2 Standpunkten. Unklar ist, wer "seine Kinder" sind beim Satz
"Ich hatte nicht nur meinen Mann neben mir stehen, sondern seine ganze Familie. [b]Seine Kinder,[/b] seine Schwester und deren Familie, sowie seine Eltern. "