Geschichte: Essay: Ist Wahrheit in jedem Fall das höchste Gut?


 Essay: Ist Wahrheit in jedem Fall das höchste Gut?
Buch:
  -
Autor:
 somichso (Profil)
Datum:
 06.04.2016 17:51

Ein alter Essay von mir zum Thema Wahrheit.

Haben Wahrheiten lange Beine, wenn Lügen kurze haben? Wenn Wahrheiten lange Beine hätten, so müssten sie makellos sein - fein in seidenen Strümpfen, ohne Krampfadern. Und knirschende Knochen? Nicht bei den endlos-langen, eleganten Beinen der Wahrheit. Die Wahrheit ist schliesslich immer das Beste, sollte das Beste sein. Doch auch die Beine einer hässlichen Hexe können in Samt gehüllt sein, mit genügend Sport verflüchtigen sich die fiesen Krampfadern und durch gute Gene bleiben die Gelenke in Schuss - Macht das aus bösen Beinen nun die besten Beine? Ist die Wahrheit nur eine Maske für eine Hexe, die die ganze Menschheit um den Finger gewickelt hat, sie glauben lässt, dass die Wahrheit perfekt sei? Gut scheint die Wahrheit, besser ist das wahre Leben?

Lässt man Personifikationen wie [b]Beine[/b] bei Seite, so ist die Wahrheit nur ein Wort. "Wahrheit", ein Nomen zum Adjektiv "wahr", bezeichnet also das Wahre. Das Wahre hat keine Gefühle. Ein Fakt kann wahr sein oder nicht. Wenn er wahr ist, so können wir ihn nicht "unwahr" machen, wir haben keinen Einfluss darauf und können die Realität in ihren Grundzügen wie dem Wahrheitsgehalt von naturbestimmten Dingen nicht ändern. Schnee schmilzt, wenn die Sonne scheint. Wahr? Jawohl. Veränderbar? Keineswegs.
Wahrheit und Realität gehen eine enge Bindung ein. Oftmals ist das, was wahr ist, auch real. Eine Aussage zu treffen, dass man die Wahrheit der Realität gleichsetzen kann, ist aber falsch. Realitäten sind nicht immer schön, Realitäten können einen schlimm herrichten, Realitäten sind manchmal enttäuschend, ermutigend, emotional, sie sind verformbat und man kann in ihren Ablauf eingreifen und ändern. Auch Wahrheiten können einen verletzen, jedoch nicht durch ihre Menschlichkeit, denn die gibt es schlicht und einfach nicht, sondern durch ihre Härte und ihre Unmenschlichkeit, die sie mitbringt. Wahr ist wahr, man kann in ihren Ablauf nicht eingreifen, denn der wurde schon seit je her bestimmt. Wahr ist wahr. Der Wahrheit ist es egal, was man über sie denkt - mann kann sie nicht verletzen, sie ist ja schliesslich die Beste.

Die kleine Schwester der Wahrheit ist die Lüge. Die Beine viel kürzer, viel nerviger und von allen gehasst. Wie bei den Schwestern gibt es auch verschiedene Lügen: Das "Unwahre", adoptiert und überhaupt nicht mit der grossen Schwester Wahrheit verwandt, und das "Halb-Wahre", teils mit der Schwester Wahrheit verwandt, teils nicht. Ironischerweise kann man diesen Sachverhalt als eine allgemeingültige Wahrheit beschreiben. Die Lüge ist formbar, veränderbar, und nur schon das macht die kleine Lüge menschlicher als die Wahrheit. Lügen sind nicht von der Natur bestimmt oder durch Formeln bewiesen. Eine Ausrede zu finden, warum man verschlafen hat, würde bei jeder Person anders ausfallen: "Ich hatte Nasenbluten - den ganzen Morgen lang!", "Mein Hund hat meine Schuhe versteckt!", "Meine Mutter meinte, heute sei frei und hatte mich deswegen nicht geweckt!" Lügen erfordern Kreativität und sind individuell. Kreativität entsteht durch persönliche Erfahrungen und Emotionen. Lügen sind emotional, sie sind wahrhaftig menschlich.
Menschlich sind die Lügen, lügnerisch die Menschen.

Jetzt wissen wir, was Wahrheit und Lüge ist, denn die Definitionen wurden wahrheitsgemäss erarbeitet. In unserem Umfeld wird man kaum auch nur einen einzigen Menschen antreffen, der noch nie gelogen hat. Doch warum ist die Menschheit so ein verlogenes Pflaster? Lügen bauen stehts auf Emotionen auf. Wir lügen, betrügen, vertuschen und pfuschen an der Wahrheit rum. Emotionen kommer immer dann zu Wort, wenn wir nicht mehr zufrieden sind. Wie bei einem Stuhl, der immer quietscht, werkeln wir daran herum, bis wir zufrieden sind. Und danach ist der Stuhl eben nicht mehr das Original, schliesslich wurden neue Teile eingebaut. Lügen sind in erster Linie für uns selbst da. Wir erschaffen uns eine neue Situation, mit der wir besser leben können, wir lügen und betrügen um uns selbst zu genügen. In zweiter Linie lügen wir für unsere Mitmenschen. Ist eine Situation für einen vertretbar, jedoch für die Gesellschaft nicht, da es vielleicht "komisch" oder "abnormal" ist, vertuschen wir die Wahrheit. Man will nicht, dass auf der Strasse schlecht getratscht wird, dass man als "krank" gilt. Der Mensch kümmert sich viel zu sehr um seinen Ruf und sein geregeltes und normales Leben - für wahnsinnige Wahrheiten ist kein Platz.

Und dennoch streben wir danach, Lügen aufzudecken, ihr die Beine zu binden und sie zu untersuchen. Ein zweiter menschlicher Instinkt, neben dem Drang, sich eine bessere Situation schaffen zu wollen, ist die Neugierde. In der Biologie heisst es folgendermassen: Je komplexer das Tier, desto neugieriger ist es. Und der Mensch ist nun mal ein höchst-komplexer Organismus. Seit je her schon entdeckt der Mensch - sei es Kolumbus, der Amerika entdeckt hat, oder seien es die Homo Sapiens, die entdeckten, wie Feuer funktioniert. Heute ist es nicht anders. So vieles wurde schon entdeckt und bewiesen, manchmal glaubt man, dass es nicht mehr "mehr" gibt. "Der Mensch weiss, was er nicht weiss." Und genau das ist das Problem. Wir wissen, was wir wissen und wissen, was wir wissen wollen - nämlich das, was wir nicht wissen. Damit man wissen lernen kann, muss man entdecken und der erste Schritt des Entdeckens ist das Hinterfragen. Erzählt uns eine Freundin den neusten Tratsch, so hinterfragen wir ihn sofort. Wir wollen nicht glauben, denn wir wissen, dass wir diesen Tratsch nicht mit eigenen Augen mitbekommen haben. Wir wissen, dass wir nicht wissen können, ob sich etwas wirklich so ereignet hat, wie man es erzählt. Nach dem Hinterfragen eines Sachverhaltes im Kopf, folgt die Umsetzung in die Tat. Man beginnt zu recherchieren, sammelt fleissig Fakten, welche gegen einen Sachverhalt sprechen, und das Endresultat der Recherchen teilt uns schlussendlich mit, ob der Sachverhalt nun Lüge oder Wahrheit ist. Stimmen Recherche und Resultat überein, handelt es sich um eine Wahrheit, stimmen sie nicht überein, haben wir nun wahrhaftig eine Lüge aufgedeckt. Der Erfolg der Aufdeckung einer Lüge erfüllt uns mit Stolz und befriedigt für eine geraume Zeit unseren Durst der Neugierde. Doch ist es das wert? Sind wir nach unseren kleinen Detektivgeschichten glücklicher dran? Es mag paradox scheinen: Ein Bedürfnis ist gestillt, und dennoch ist man nicht glücklicher. Ein kleines Fallbeispiel: Sieben Uhr abends, mein Bauch schreit nach Essen. Endlich nehme ich die langersehte Lasagne in meinen Mund, nach einiger Zeit ist das leere Loch im Magen gefüllt. Obwohl ich nun gesättigt bin und mein Hunger gstillt ist, hebt das meine Laune nicht im Geringsten an - ganz im Gegenteil, wer weiss, wie viele Kalorien das Essen hatte?!
Nachdem man die Wahrheit herausgefunden hat, fängt es an zu dämmern. Das Funkeln flieht aus den Augen und die Welt scheint mit jeder Wahrheit ein wenig grauer. Die Wahrheit ist farblos und kennt kein Pardon. Ihre Härte beginnt sich in der Umgebung auszubreiten und zu wiederspiegeln, sie nimmt uns die Freude am Leben. Wäre die Lüge ein regenbogen, wäre die Wahrheit eine Wolke. Wolken verdecken Regebögen und nehmen so die Farbe aus dem Himmel und färben ihn grau, gar Unwetter können aus den wuchtigen Wolken hervortreten. Doch auch Regebögen sind nicht ewig. Im Moment mögen sie als wunderschön und anzüglich erscheinen, doch man darf nicht vergessen, dass es sowohl Sonne wie auch Regen für einen Regenbogen braucht. Auch wenn die Wahrheit durch ihre Härte, Unmenschlichkeit und Korrektheit verletzen kann, zeigt sie und die wahre Welt. Wie sie nun mal so ist. Die Wahrheit bewahrt uns davor, in einer farbenprächtigen Scheinwelt zu leben, denn das Leben dort ist nicht real. Allerdings spricht nichts dagegen, sich seine graue WElt mit ein paar Farbtupfern zu verschönern, schliesslich soll man leben können, und nicht gefühlslos existieren in einer grauen, menschenwidrigen Welt. Achtung ist geboten: Man solle aber wasserdichte Farben verwenden, denn wasserlösliche Farbtupfer werden durch den nächsten Regen schnell ausradiert.

Lügen haben kurze Beine, Wahrheiten Hexenbeine mit Krampfadern und Rasierstoppeln - oder sie hat gar keine Beine, denn die Wahrheit ist in keiner Hinsicht menschlich. Dennoch sind Krampfadern und Rasierstoppel wichtig, denn sie erinnern uns daran, dass nicht perfekt ist. Klar kann man die Krampfadern durch Pflaster abdecken, doch auch die fallen irgendwann ab und lassen die blauen Adern zum Hervorschein kommen. Wahrheit ist das, was bleibt, wenn einen alles verlassen hat und Wahrheit ist das, was den Drang der Neugierde stillt. Obwohl das eher positive Fakten sind, bleibt sie unmenschlich und hart. Das befriedigte Gefühl vergeht und was bleibt, ist die Härte und der scheussliche Schmerz - wie ein schwerer Stein, welcher auf dem Fuss liegen bleibt. Er bedrückt einen wortwörtlich. Lügen mindern den Schmerz der Wahrheit, doch eines sei gewiss: Wahrheiten haben keine schönen Beine, und so auch Lügen nicht, sogar wenn sie eine schiere Tonne Make-Up tragen, denn nach allem bilden Wahrheit und Lüge immer noch eine kleine Familie.



2 mal bearbeitet. Zuletzt am 06.04.16 17:59.