Geschichte: Die Geächteten III


 Die Geächteten III
Buch:
  Die Geächteten
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 27.09.2016 16:54

Ihr Instinkt sagte Arsinoe, sie sollte fliehen.
Doch da war noch eine andere Stimme in ihr, die ihr befahl, stehenzubleiben.
Vielleicht war es die Neugier.
Vielleicht spürte sie etwas in der Kreatur, die sie vor sich hatte, das ihr Interesse erregte.
Vielleicht war da auch noch ein letzter Funke Hoffnung in ihr, Hoffnung darauf, dass es noch jemanden auf der Welt gab, der sie nicht hasste.
Was auch immer es war, es besiegte den Instinkt.
Arsinoe rührte sich nicht, sondern starrte das Wesen an, das vor ihr zwischen den grauen Bäumen kauerte. Es war von menschlicher Gestalt, nur etwas kleiner, doch sein ganzer Körper war von glattem, grauem Fell bedeckt, unter dem sich kräftige Muskeln abzeichneten. Nur an den Schultern, den Handgelenken, den Fußknöcheln und dem langen Schweif war das Fell etwas länger und zottiger.
Das Wesen war ohne Zweifel ein Werwolf.
Er trug ein einfaches, braunes Tuch um Hüfte und Schultern, das von einem Ledergürtel zusammengehalten wurde. An diesem Gürtel hing ein langes Messer, auf seinem Rücken ein Köcher und über seiner Schulter ein doppelt geschwungener Bogen aus glänzendem, dunklem Holz.
Der Werwolf näherte sich ihr langsam und vorsichtig, fast als fürchtete er, sie zu erschrecken, bis er nur noch eine Armlänge von ihr entfernt war. Sekundenlang sahen sie sich einfach nur an, der Werwolf starrte in die grauen Augen des Mädchens, Arsinoe in seine leuchtend grünen. Sie betrachtete sein Gesicht. Es war größtenteils menschlich, bis auf das kurze Fell, die schwarze, wolfsartige Nasenspitze und den Spalt darunter, der die Oberlippe in zwei Hälften teilte. Aus dem zottigen, schwarzen Haar, das sein fein geschnittenes Gesicht einrahmte, ragten spitze, pelzige Ohren.
In diesem Moment versank die Sonne hinter den fernen Bergen und der rote Schein, der sich eben noch in seinen grünen Augen gespiegelt hatte, erlosch von einem Augenblick auf den anderen.

Ancoron betrachte das traurige, dunkle Gesicht des Mädchens, die zerzausten schwarzen Haare, die grauen Augen, die durch ihn hindurch in seine Seele zu blicken schienen.
Da ging die Sonne unter und kurz darauf ertönte ein langgezogener, geisterhafter Schrei, wie der eines Wales, und ein zweiter, leiser und weiter entfernt, antwortete.

Arsinoe zuckte zusammen. Erschrocken blickte sie den Werwolf an.
„Sie grüßen die Nacht“, sagte dieser leise in der Sprache der Menschen.
„Wer?“, fragte sie. Der Werwolf sah sich um.
„Wesen, denen du nicht begegnen möchtest“, antwortete er, „Folge mir, wenn du diese Nacht überstehen willst.“
Er wandte sich um und suchte sich einen Weg zwischen den Bäumen hindurch auf den Wald zu.
Arsinoe zögerte. Sie konnte nicht zurück dorthin, woher sie gekommen war, und genauso wenig konnte sie hier verweilen, allein in der Wildnis. Es blieb ihr nur, dem fremden Wesen zu trauen. Sie setzte sich in Bewegung und folgte dem Werwolf.
Ancoron lief geduckt, die Hände oft am Boden, was seine Ähnlichkeit mit einem Wolf noch verstärkte. Seine Bewegungen waren lautlos, flink und geschmeidig.
Es wurde kälter, ein leiser Wind kam auf. Arsinoe fröstelte. Bei jedem Geräusch um sie herum fuhr sie zusammen.
Was war dort draußen?
Was bewegte sich dort im Schatten der Nacht?
Plötzlich ertönte erneut ein geisterhafter Schrei, unerträglich laut und so nah, dass Arsinoe glaubte, den Atem des Wesens spüren zu können.
Es war bereits so dunkel, dass sie nur noch die Umrisse ihres Führers erahnen konnte, und das grüne Schimmern seiner vor Angst geweiteten Augen, als er sich zu ihr umwandte.
„Sie wittern uns“, flüsterte er, und sie hörte deutlich die Furcht in seiner Stimme. „Sie wittern dich! Schnell!“ Er nahm ihre Hand und rannte los. Arsinoe folgte ihm, ohne den Weg vor ihren Füßen sehen zu können. Sie stolperte, doch Ancoron fing sie auf, bevor sie auf dem Boden aufschlug, und sie stürmten weiter, hinter sich die Schreie, vor sich nur undurchdringliche Dunkelheit.
Noch nie war Arsinoe so schnell gerannt, nicht einmal, als die Männer des Königs hinter ihr her gewesen waren. Ihre Lunge brannte und alle ihre Muskeln schmerzten, doch sie wurde nicht langsamer.
Irgendwann schien die Finsternis um sie herum noch schwärzer zu werden und Arsinoe ahnte, dass sie den Wald erreicht haben mussten. Der Boden unter ihren Füßen stieg an, erst kaum merklich, dann immer steiler, und schließlich blieb der Werwolf so abrupt stehen, dass Arsinoe sich beinahe überschlug und auf hartem Stein landete.
„Wir haben es geschafft“, hörte sie ihn sagen. „Hier sind wir sicher.“

 Re: Die Geächteten III
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 27.09.2016 16:59
Bewertung:
 

Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber hier kommt das dritte Kapitel. Nicht unbedingt ein Meisterwerk, was die Formulierung angeht, da habe ich schon bessere Texte geschrieben. Es war diesmal wirklich schwierig, die richtigen Formulierungen zu finden, ich glaube, so schwer wie hier ist es mir noch nie gefallen. Wie auch immer, die Fortsetzung folgt hoffentlich bald. :D

 Re: Die Geächteten III
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 27.09.2016 17:17
Bewertung:
 

Eine tolle Geschichte! Und super spannend!
Dein Schreibstil ist bewundernswert. Auch wenn du meinst, dass er dir ziemlich schwergefallen ist.
Hoffentlich kommt bald das nächste Kapitel! :-)

 Re: Die Geächteten III
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 27.09.2016 17:30
Bewertung:
 

Dieses Mal waren es meine Sterne, die verschwunden sind :-)

 Re: Die Geächteten III
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 27.09.2016 18:10
Bewertung:
 

:D Danke sehr! Es bedeutet mir wirklich sehr viel, dass dir meine Geschichten gefallen! Bitte lies meine ersten beiden Geschichten: "Der Überlebende oder Das Silberlicht" und "Thanatos", denn die sind mir meiner Meinung nach am besten gelungen, von der Wortwahl her. Das liegt daran, dass ich, als ich sie geschrieben habe, sehr motiviert war. Mein Ziel ist es, dass alle meine Geschichten von der Wortwahl her ungefähr so sind wie diese beiden, das ist der Stil, den ich anstrebe, aber es ist wirklich schwierig, das durchzuhalten.

 Re: Die Geächteten III
Autor:
 Rolf (Profil)
Datum:
 29.09.2016 09:16
Bewertung:
 

Tolle Geschichte! Die richtigen Worte zu finden ist mnchmal wirklich schwierig. Das Problem haben auch grosse Autoren. Wie jeder haben sie bessere undschlechtetre Tage.
Freue mich auf die Fortsetzung!

 Re: Die Geächteten III
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 24.10.2016 12:57
Bewertung:
 

Warte mal... Habe ich wirklich vergessen, diese Geschichte zu bewerten?