Geschichte: Aufwachen (Teil 2)


 Aufwachen (Teil 2)
Buch:
  Aufwachen
Autor:
 Equestrice (Profil)
Datum:
 30.11.2016 15:29

Fortsetzung!

Viel Spass beim Lesen!



Nachdem ich die Strecke wieder zurückgelegt habe und nun vor der Haustür stand, hielt ich an. Unsicher, was mich nun erwarten wird, drückte ich die Klinke hinunter. Es war eine Angewohnheit von Mom, die Tür immer offen zu lassen, obwohl ich ihr schon mehrmals klargemacht habe, dass Einbrecher die Wohnung leer räumen könnten.

Als ich meine Schuhe auszog, hörte ich schnelle Schritte und musste nicht nach oben blicken, um zu erraten, dass sie es war. "Naya! Gott sei Dank, es geht dir gut! Ich habe mir solche -" Mit einer gleichgültigen Miene ignorierte ich die Rede und stampfte wortlos in mein Zimmer.

Ich versicherte mich, dass die Zimmertür abgeschlossen war und öffnete das Geheimfach in meiner Kommode. Ein Buch mit dickem Umschlag lag darin, etwas abgegriffen, jedoch der wertvollste Gegenstand für mich. Ich kroch unter die Bettdecke und blätterte bis zum aktuellsten Eintrag.

19. Oktober

An diesem Tag hat sich mein ganzes Leben verändert.
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>> Tagebucheintrag <<

19.10.2016 - Krankenhaus

Ich bin so verzweifelt, dass ich mir die Seele aus dem Leib brüllen könnte!

Vor einer halben Stunde teilte mir ein Arzt mit, dass sein Zustand sich nach der Operation verschlechtert hatte. Dann fing er an, alle Verletzungen aufzuzählen, die Liam bei diesem Unfall erlitten hatte. Nach einer Weile schaltete mein Gehirn automatisch ab und ich brach wieder in Tränen aus, obwohl ich in letzter Zeit schon so oft geheult habe, dass eigentlich keine Tränen übrig sein müssten. Dieser Arzt - Herr Steinmeier - versuchte mich zu trösten, indem er mir sagte, dass seine Überlebenschance ungefähr bei 30% liegt. Dann liess er mich allein.

Allein mit meiner Trauer und Verzweiflung.

Und einem kleinen Fünkchen Hoffnung.

Obwohl ich alles dafür gegeben hätte, ihn zu sehen. Doch der Arzt meinte, dass er strenge Ruhe bräuchte, um sich zu erholen.

Ich hoffe, er hat Recht.

Die Uhr zeigt jetzt 2 Uhr morgens an, und ausser dem Arzt und die Eltern von Liam ist mir noch niemand anderes begegnet.

Ich mache mir solche Sorgen...

Liam wird es schaffen.

Er ist ein Kämpfer.

Psychisch und physisch.

Meine Gedanken schwirren nur um ihn und obwohl ich nicht gläubig bin, bete ich zu Gott, dass er am Leben bleibt.

Ich weiss einfach nicht, was ich machen soll. Mom ist auf dem Weg, doch sie steckt vorläufig im Stau. Liams Eltern sitzen drei Stühle von mir entfernt und haben seit ihrer Ankunft kein Wort von sich gegeben. Rebecca schluchzt leise und Steve streicht ihr abwesend über den Rücken.

Ich bringe nicht den Mut auf, sie zu trösten. Weil ich weiss, dass nichts auf dieser Welt den Verlust ihres einzigen Sohnes wieder gutmachen kann.

Es ist alles meine Schuld.

Ich hätte an seiner Stelle sein müssen.

Das rasende Auto hätte mich treffen sollen, nicht ihn.

Ich werde bis an mein Lebensende vor Augen haben, wie die quietschenden Reifen über den Asphalt schlitterten. Wie sein Körper mitgerissen wurde und mit einem entsetzlichen Geräusch hart auf dem Boden aufprallte. Das viele Blut, das in Windeseile eine riesige Lache bildete. Seine muskulösen Arme waren in einem unnatürlich verdrehten Winkel. Mit tränenerstickter Stimme wimmerte ich, dass er mich nicht in Stich lassen soll. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis die schrille Sirene den Krankenwagen ankündigte und ich auch schon von seinem leblosen Körper weggerissen wurde.

Minuten später waren wir mit Höchstgeschwindigkeit und Blaulicht unterwegs ins nächste Krankenhaus, wo alles so schnell ging und Ärzte Liam in den Operationssaal brachten.

Dies war vor ungefähr 4 Stunden. Der Schock sitzt mir trotzdem noch tief im Knochen.

Und der Gedanke daran, ihn nicht mehr bei mir zu haben, ist ebenso unerträglich wie Rebeccas Schluchzen.

Herr Steinmeier ist gerade ins Wartezimmer eingetreten, ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Scheint so, als müsste er uns etwas Dringendes mitteilen...

Hoffentlich ist Liam aufgewacht...
______________________________

Im Gegenteil.

Mit zitternden Fingern klappte ich das Buch zu und starrte abwesend aus dem Fenster. Das, was danach geschah, hat nebst dem Unfall mir am meisten Alpträume verursacht. Fast jeden Tag wachte ich schweißgebadet und mit klopfendem Herzen auf, nur um herauszufinden, dass es real war. Ich befinde mich in der Realität.

>Flashback<

Der Arzt teilte uns mit trauriger Miene in einem Satz mit, dass Liam es nicht geschafft hat.

Diese Worte trafen mich so hart, dass ich innerlich zusammenbrach. Aus dem Augenwinkel erkannte ich Mom, die durch die Eingangstüren auf mich zu stürmte. Sie erstarrte, als sie unsere bedrückten Mienen sah und seufzte hilflos.

"Schätzchen, du kannst nichts dafür... ", flüsterte sie und verstummte, während ihre Augen feucht wurden. Rebecca lehnte sich mit geschlossenen Augen an Steve an, dessen gerötete Augen auf mir ruhten. Auch als ich wegschaute, spürte ich seinen Blick, der mich förmlich durchbohrte.

Und ich verstand.

Er gab mir wirklich die Schuld an Liams Tod.

Mit langsamen Schritten näherte er sich mir, während ich mich nicht von der Stelle bewegte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, so fest, dass die Knöcheln heraustraten. "Du...", sprach er mit einer gebrochener Stimme und packte plötzlich mein Handgelenk. "Du hast mir meinen Sohn genommen!", brüllte er und verstärkte den Druck. "Steve! Hör auf!", schrie Rebecca und versuchte ihn wegzuzerren. Mom schaffte es, seine Finger von meinem Handgelenk zu lösen und zog mich hinter ihr. "Naya trägt keine Schuld! Es war ein Unfall!", verteidigte sie mich.

"Nein! Wenn sie sich nicht mit Liam angefreundet hätte, wäre es nicht zu diesem Unfall gekommen!" Wütend knirschte er mit den Zähnen. "Das hast du jetzt nicht gerade behauptet!", drohte Mom und ihr Gesicht glühte vor Zorn. "Liam liebte Naya wie eine jüngere Schwester! Auch sie liebte ihn wie ein älterer Bruder! Glaubst du etwa, dass sein Tod ihr nicht zusetzt?"

Steves Gesichtszüge wurden weicher und er schüttelte fassungslos den Kopf. Er atmete tief durch. "Es... Es tut mir leid... Aber i-ich..." Er seufzte und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. "Bitte, geht... Wir brauchen etwas Zeit für uns." Wortlos nahm Mom mich am Arm leitete mich zum Ausgang.

>Ende des Flashbacks<

Eine Woche später fand die Beerdigung statt. Seit dem Vorfall im Krankenhaus habe ich kein Wort mit Rebecca und Steve gewechselt. Ich konnte ihnen nicht unter die Augen treten, ohne, dass ich automatisch an meine 'Schuld' denken musste.

Und diese Schuld belastete mich immer noch.

Kurzerhand riss ich die Schranktür auf und fand sein T-Shirt, das er mir vor kurzer Zeit spontan zu meinem Geburtstag geschenkt hatte. Ich vergrub meine Nase in dem weichen Stoff und sog den schwachen Geruch nach ihm auf. Dann sammelte ich alles andere, was mich an Liam erinnerte und verstaute es in einer Schachtel.

Mit der Schachtel unter dem Arm eilte ich aus dem Haus und ging schnurstracks zu einem Blumenladen, wo ich mein übriges Taschengeld für den schönsten Blumenstrauss im Laden ausgab. Dieser legte ich mit einer Notiz an der Türschwelle von Rebecca und Steve, klingelte, und lief weg.

Mein Vorhaben war eigentlich sinnlos. Da ich Liam nicht vergessen kann, muss ich einen anderen Weg finden, die Erinnerungen an ihn in den hintersten Winkel meines Gehirns zu verbannen.

Sonst werde ich ewig in diesem Teufelskreis feststecken, mir und anderen Menschen in meinem Umfeld Leid zufügen und irgendwann in meinen Gedanken ertrinken.

Es gibt nur einen Weg, über das Geschehene hinweg zu kommen.

Eigentlich wäre das ein Kinderspiel. Wenn das unzählige Millionen Menschen schaffen, weshalb kann ich das nicht?

Wieso kann ich nicht weiterleben?



1 mal bearbeitet. Zuletzt am 02.12.16 05:05.

 Re: Aufwachen (Teil 2)
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 30.11.2016 17:05
Bewertung:
 

Du hast ein Talent dafür, Gefühle auszudrücken.
Ich kann mich gut in Naya hineinversetzten, aber ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle tun würde.
Dafür habe ich gerade gelernt, wie wertvoll Absätze sein können. :-)

 Re: Aufwachen (Teil 2)
Autor:
 Rahel.Dr (Profil)
Datum:
 30.11.2016 18:33
Bewertung:
 

Sehr schön, ich war echt gefesselnd und ´will umbedingt wissen wie es weiter geht.
Hört sich jetzt scheiße an,ist aber so.
Du hast kannst echt gut Gefühle beschreiben, ich liebe so etwas (tu) (tu)

 Re: Aufwachen (Teil 2)
Autor:
 Equestrice (Profil)
Datum:
 01.12.2016 12:43
Bewertung:
 

Haha Danke... Ich überlege mir aber, ob die nächste Geschichte die ich schreibe nicht mehr so depressiv sein sollte... :-)

 Re: Aufwachen (Teil 2)
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 01.12.2016 15:52
Bewertung:
 

Schreib weiter! Ich mag düstere Geschichten. :))

 Re: Aufwachen (Teil 2)
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 03.12.2016 16:16
Bewertung:
 

Das hast du schon mal gesagt....
Wie auch immer, sie hat recht. Düstere Geschichten sind häufig sehr schön, weil sie sehr emotional sind und du kannst so etwas nunmal sehr gut rüberbringen. Schreib auf jeden Fall weiter.

 Re: Aufwachen (Teil 2)
Autor:
 LunaMoon (Profil)
Datum:
 11.12.2016 17:38
Bewertung:
 

Total spannend.Ich finde,du hast echt viel Talent! :bravo:

 Re: Aufwachen (Teil 2)
Autor:
 terminator (Profil)
Datum:
 26.04.2017 18:44
Bewertung:
 

Ahhhh! Ich hab fasst geheult, weil mir sowas ähnliches auch passiert ist. Es ist echt hart damit klarzukommen, aber irgendwan muss man nach vorne schauen und weiterleben.
Echt super wie du die ganze Emotion rüber bringst! :bravo: