Geschichte: jailbreaking 5 -zurück im Jetzt

"Warum gibst du nicht einfach auf?"
Die Worte hallen in meinem Kopf wider. Warum nochmal wollte ich hier raus? Warum habe ich wieder und wieder so verzweifelt versucht, diese Mauern zu durchbrechen? Meine Gedanken schweifen zurück zu unzähligen Versuchen, diesem Ort zu entkommen. Ich hatte jede noch so kleine Lücke ausgenutzt, war einer überragenden Überzahl entgegengetreten, war die Mauer entlang geklettert, hatte die Zähne zusammengebissen und meine tauben Finger ignoriert, hatte meine Angst überwunden und war aus mehreren Metern Höhe gesprungen. Ich hatte mich mit tränennassem Gesicht geweigert, mich zu ergeben.
Warum?
Was hatte mich dazu angetrieben, diesen Schmerz und diese Mühe auf mich zu nehmen? Welchen Grund hatte ich gehabt, diesen hoffnungslosen Kampf immer wieder aufzunehmen? Ich verstehe es nicht. So sehr ich mir auch den Schädel zermartere, ich komme einfach nicht darauf.
Ich sehe zum Fenster. Die Wintersonne wirft bleiches Licht durch die rostigen Gitterstäbe. Die Steine tragen Spuren eines Messers, mit dem einer der Stäbe beinahe herausgelöst worden war. Wenn ich sie sehe, fühlt es sich wie das Werk einer Fremden an.
Wer war sie, dieses Ich, das um diesen Preis nach draußen wollte? Was trieb sie dazu?
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich hier bin. In dieser ewigen Eiswüste gehen die Jahreszeitenwechsel unbemerkt an einem vorbei. Wie lange ist es her, dass ich diesen Raum das letzte Mal verlassen habe? Wie lange schon hat Fels diese Traurigkeit in den Augen, wann immer er mich ansieht? Wochen? Monate? Vielleicht sogar Jahre?
Die Wachen haben aufgehört, sich über mich lustig zu machen. Die Witze über meine früheren Fluchtversuche sind verklungen.
Jetzt ist sie nur noch ein Schatten, der durch dieses Gemäuer haust. Das Mädchen, das ich einmal war. Eine Erinnerung, die langsam aus den Köpfen der Bewohner verschwindet. Bald werde auch ich sie vergessen haben.
Mein altes Leben verschwindet. Die Tage gehen an mir vorüber, ohne dass ich es bemerke. Habe ich je etwas anderes gegessen, als Suppe und Brot? Gab es einmal eine andere Landschaft, als die von Schnee bedeckte Ebene? Gab es Zeiten, in denen ich nicht über die Vergangenheit nachgedacht habe?
Ich habe lange nicht mehr geredet. Meine Fragen würde mir eh niemand beantworten. Die einzige, die mit mir redet ist SIE. Sie verfolgt mich in meinen Träumen. Ich höre nachts ihre Stimme. Wie sie mich ruft, mich bittet, mich zwingt zu erinnern. Ihre schmerzerfüllten Worte, ihr Flehen, ihr Flüstern, ihre tiefe Verzweiflung, die sich wie meine eigene anfühlt.
Ich glaube, ich verliere den Verstand.



1 mal bearbeitet. Zuletzt am 10.06.18 09:53.

Eigentlich wollte ich mit "Jailbreaking" eine lustige Endlos-Geschichte schreiben....und dann kam mir ein trüber Vormittag in die Quere.

Cool sehr einfallsreich

Danke!