Geschichte: Schau nicht zurück


 Schau nicht zurück
Buch:
  -
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 10.04.2017 12:13

Einfach mal was Altes rausgekramt. :-)

Der Wind fuhr durch die Bäume und zwang sie ihr Herbstkleid endgültig abzulegen. Im schwachen Lichtschein meiner Stirnlampe konnte ich gerade mal drei Meter weit sehen.
Ich joggte mit federnden Schritten durch die kalte Herbstnacht. Der weiche Herbstboden schluckte jedes Geräusch. Ich fröstelte. Kleine Tiere brachten sich im Dickicht vor mir in Sicherheit. Ab und zu schrie eine Eule, hin und wieder lief mir eine Maus über den Weg. Sonst war niemand da. Keine Menschenseele. Trotzdem hatte ich ein seltsam mulmiges Gefühl in der Magengegend. Irgendetwas lag hier in der Luft. Sie schien vor Anspannung leise zu knistern. Immer öfter drehte ich mich um und blickte zurück. Glücklicherweise war es nicht ganz dunkel:
Der Vollmond war aufgegangen und uralte Bäume zeichneten sich vor der silbernen Scheibe wie Scherenschnitte ab. Es war nichts Auffälliges zu sehen oder zu hören, doch ich beschleunigte meine Schritte ein wenig. Die kühle Nachtluft brannte in meiner Lunge. Am liebsten hätte ich jetzt gemütlich zu Hause vor dem Kamin gesessen und eine Tasse heiße Schokolade getrunken, doch das war nun leider nicht mehr möglich. Ich schüttelte den Gedanken ab und steuerte weiter ein nur mir und wenigen Eingeweihten bekanntes Ziel an. Mit Schaudern dachte ich an den Tag zurück, an dem ich mit meiner Schwester den Schädelknochen eines toten Wildschweins gefunden hatte. Er hatte auf einem schmalen Baumstumpf gesteckt und uns mit leeren Augenhöhlen angeglotzt.
Ich hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt und war blind daran vorbeigelaufen, bis hinter mir etwas laut knackte. Ich hatte mich sofort umgedreht und einen riesigen Schrecken bekommen, weil ich den Schädel zunächst für die Fratze eines besonders jähzornigen Nachbarn gehalten hatte. Meine Schwester musste ihn natürlich gleich in die Hand nehmen und ihn unserem Biolehrer unter die Nase halten, der ihm jedoch nur den Schriftzug Made in Germany entnehmen konnte. Ich habe den Schädel trotzdem noch ein paar Tage lang behalten und ihn mit roter Farbe bemalt, um ihn dann einer verhassten Klassenkameradin in den Ranzen zu legen. Leider wohnte die uns damals noch direkt gegenüber und ich hatte eine Woche lang morgens lebendige Maden im Bett. Davor hatte ich noch nichts gegen diesen Würmerkram, doch jetzt suchten meine Augen sorgfältig den mit totem Laub bedeckten Boden ab. Hinter mir knackte es im Unterholz. „Das ist bestimmt nur wieder so ein Tier“, dachte ich, drehte mich aber, als ein lautes Rascheln ertönte, sicherheitshalber doch um. Zuerst sah ich nichts. Der Wind blies mir in die Augen und ich musste blinzeln. Dann sah ich ihn. Den Schatten. Ich verrenkte mir den Hals und blickte über die Schulter während ich mich zwang weiterzulaufen. Plötzlich war ich mir ganz sicher, dass da jemand hinter war. Obwohl das ja nicht unbedingt was Schlimmes sein musste, rannte ich immer schneller. Das Herz schlug mir bis zum Hals und meine Rippen schmerzten. Ich zwang mich, von nun an nicht mehr zurückzuschauen. „Dreh dich nicht um!“, hämmerte es in meinem Kopf. Ich konzentrierte mich nur noch auf Weg und Ziel. „Schau nicht zurück!“ In Gedanken verfluchte ich meine große Schwester, die mich um die Finger gewickelt hatte. Sie hatte mir Konzertkarten für die längst verstorbenen Beatles versprochen, wenn ich mitten in der Nacht auf dem Friedhof ihren Schlüsselbund fand. Da waren Auto- und Hausschlüssel dran, also war es sehr wichtig. Am wichtigsten war jedoch der kleine blaue USB-Stick, auf dem ein Teil ihres Univortrags für Morgen gespeichert war. Plötzlich flackerte meine Taschenlampe unheilvoll. Ich fluchte lautstark, was mir sogleich starkes Seitenstechen einbrachte. Ich riss mich zusammen und hielt mir die Seite in der es wie hundert Nadelstiche pikste. Mir fiel eine alte chinesische Foltermethode ein: Tod durch tausend Stiche. Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass sie blutete. Der Weg wurde immer schmaler und war voller Stolperfallen. „Schau nicht zurück“, schärfte ich mir ein. „Ich bin ja gleich da.“ In der Ferne konnte ich schemenhaft das Friedhofstor ausmachen. Gleichzeitig hörte ich deutlich Schritte hinter mir. Der Schweiß lief mir über das Gesicht und rann kalt in meinen Nacken. Die Angst attackierte meine Nerven mit heftigen Stromstößen. Ich keuchte wie ein altersschwacher Traktor. Der Verfolger hinter mir musste denken, ich bekäme gleich einen Herzkaspar. Vielleicht aber hatte ich mir das alles nur eingebildet. Vielleicht war da gar keiner. Vielleicht litt ich unter Verfolgungswahn. Ich lauschte. Ja, das musste es sein. Nichts war zu hören. Ja, vielleicht war da wirklich keiner… Zur Sicherheit rannte ich nur noch schneller. „Schau nicht zurück“, wiederholte ich immer wieder. Wenn ich mich jetzt umdrehte, würde ich ohne Zweifel hinfliegen. Das Seitenstechen wurde immer stärker, meine Beine immer schwerer. Das offene Friedhofstor war nur noch ein paar Schritte von mir entfernt. Sein Anblick war wie eine Energiespritze für mich. Die Nerven zum Zerreißen gespannt lief ich hindurch. Doch wenn ich allen Ernstes geglaubt hatte, hier wäre ich sicherer, als draußen im Wald, dann hatte ich mich soeben getäuscht. Schwer atmend blieb ich stehen und stützte meine Hände auf die Knie, um eine Pause zu machen. Anscheinend war da wirklich Keiner gewesen. In der Ferne donnerte es. Der Wind war zu einem lauten Heulen angeschwollen. Deshalb hörte ich nicht, wie das Friedhofstor mit einem leisen Quietschen gemächlich zufiel, um sich für mich nie mehr zu öffnen. Ich wischte mir müde über die schweißnasse Stirn, doch das machte es auch nicht gerade besser. Liebend gern hätte ich jetzt mit jemandem getauscht. Wer war auch so lebensmüde jetzt und hier einen Schlüsselbund zu suchen? Die ersten Regentropfen berührten den Boden. Im Licht meiner immer schwächer werdenden Lampe sahen sie aus, wie winzige Diamanten. Ich zitterte. Jetzt, wo ich mich nicht mehr bewegte, war mir auf einen Schlag eiskalt. Eine kräftige Windböe wollte mich mit sich reißen und jagte braune Blätter vor sich her. Neben mir war auf einmal das Geräusch von knirschendem Kies zu hören. Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Waren das etwa Schritte? Seit diesem Moment konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. „Dreh dich nicht um! Schau nicht zurück!“, hallte es in meinem Kopf, doch ich verstand die Worte nicht mehr. Eine kalte Hand krallte sich in meine linke Schulter. Mich schüttelte die nackte Angst. Mit mir unbekannten Kräften riss ich mich los. Ohne mich umzusehen stürmte ich zwischen den verwitterten Kreuzen und efeubewachsenen Grabsteine hindurch. Ich war wie von Sinnen. Dorniges Gebüsch streckte seine kratzigen Finger nach mir aus und wollte mich festhalten. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich begonnen hatte wie am Spieß zu schreien. Ohne zu einer anderen Bewegung fähig rannte ich auf die Kathedrale am Ende des Hauptwegs zu und taumelte die wenigen Stufen zu der Kirche hinauf. Dass die Tür sperrangelweit offen stand, wie ein Gefräßiges Maul, nahm ich einfach nur noch so hin. Genauso die tausenden von brennenden Kerzen auf Bänken und Emporen oder die dunkle Orgelmusik. Alles drehte sich unaufhaltsam im Kreis und ich war sein Mittelpunkt. „Schau nicht zurück“, echote es in mir, während ich mich mit letzter Kraft durch den Mittelgang auf den Altar zu kämpfte. Ob hinter mir jemand war, wusste ich nicht. Es war als wäre ich plötzlich taub geworden. Ich wusste nur, dass ich mich nicht umdrehen durfte. Es gab nur noch mich und den Altar, auf den ich mich zu schleppte, wie auf die offene Himmelspforte. Ich hatte ihn gerade erreicht, als etwas hart meinen Hinterkopf traf. Um mich herum wurde es dunkel und ich griff nach dem Gegenstand der die ganze Zeit schon auf dem Altar gelegen hatte, als wäre er ein Rettungsring. Viel zu spät, als ich bereits ausgestreckt auf dem Boden lag, mit einem Messer in der Kehle, und meine letzten Atemzüge tat, realisierte ich, dass es ein kleiner blutverschmierter USB-Stick mit der Aufschrift Univortrag war.

Ende

 Re: Schau nicht zurück
Autor:
 Equestrice (Profil)
Datum:
 12.04.2017 11:27
Bewertung:
 

Ziemlich schaurige Geschichte! Wer ist eigentlich die unbekannte Person? ;)

 Re: Schau nicht zurück
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 13.04.2017 06:54
Bewertung:
 

Ich weiß es leider nicht. In der Eile hab ich mich nicht umgedreht :-)

 Re: Schau nicht zurück
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 13.04.2017 12:31
Bewertung:
 

Ich hatte die ganze Zeit gedacht, dass im nächsten Moment der Gärtner oder sonstwer hinter der Person auftaucht und irgendwas banales sagt wie: "Dein Schnürsenkel ist offen." oder "Was machst du denn hier?"
Tja, Pech gehabt, dass es dann doch nur der größenwahnsinnige Mörder war.

 Re: Schau nicht zurück
Autor:
 BlueAngel (Profil)
Datum:
 13.04.2017 15:46
Bewertung:
 

Super Geschichte,
habe richtig Gänsehaut bekommen.

Ansonsten hatte ich denn selben Gedanken wie nightdragon. ;)

 Re: Schau nicht zurück
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 16.04.2017 17:10
Bewertung:
 

Eine gute Idee, das mit dem anderen Ende. Vielleicht schreibe ich mal eine Alternative.

 Re: Schau nicht zurück
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 16.04.2017 18:47
Bewertung:
 

Uuuuu, gruselig! :D
Ich liebe es, wenn man mitten in eine Geschichte hineingeworfen wird, ohne zu wissen, was los ist und sich fragt: Wie zum Teufel ist die Hauptfigur nur in diese Situation geraten? Das macht es richtig spannend.