Geschichte: Der Turm der verlorenen Träume II

Silvana fand ihre Mutter im Garten, wo sie gerade dabei war, Äpfel zu ernten.
„Mama!“, rief sie. „Ich habe eine Katze gesehen!“
Ihre Mutter sah sie nicht einmal an.
„Es war die schönste Katze der Welt“, fuhr Silvana fort, „Und ich wette, sie konnte meine Gedanken lesen.“
„Du träumst wieder“, seufzte ihre Mutter. „Kind, wie willst du je erwachsen werden, wenn du mit deinen Gedanken ständig sonstwo bist? Hör zu, es gibt keine Drachen, keine sprechenden Tiere, keine Elfen, Trolle oder Nachtmahre. Und über den Wolken ist nichts, nur Leere. Warum sollte man also einen Gedanken daran verschwenden?“
Trotzig verschränkte Silvana die Arme. „Selbst wenn es sie nicht gibt, warum sollte ich nicht von ihnen träumen?“
„Träume kann man nicht essen, und genauso wenig bezahlen sie unsere Schulden“, sagte ihre Mutter nur. „Und jetzt stör mich nicht weiter und geh mit deinen Freunden spielen.“
Silvana schüttelte verzweifelt den Kopf. Noch nie hatte ihre Mutter so mit ihr gesprochen. Sie konnte sich keinen Reim auf dieses neue Verhalten machen. Doch vielleicht hatten die anderen Kinder irgendetwas herausgefunden. Sicher hatten sie die Veränderung auch bemerkt.
Sie trommelte ihre Freunde zusammen. Es dauerte nicht lange, bis fast alle Kinder des Westviertels auf der Wiese am Waldrand versammelt waren. Dort waren Claudia und Rosalia, die Töchter des Schmiedes, Tom, Pavel und Olivia, Aulus, Marie, Bernardo und die kleinen Zwillinge Tullio und Flavia.
Und tatsächlich – jeder von ihnen hatte die seltsame Veränderung auch bemerkt.
„Die Erwachsenen tun, als wären sie ganz allein auf der Welt“, sagte Claudia, ein kleines Mädchen mit blonden Haaren, die zu zwei Zöpfen geflochten waren.
„Ja“, sagte Silvana, „Sie scheinen alle in ihrer eigenen kleinen Welt zu leben – Sie nehmen einander gar nicht mehr wahr.“
„Sie wollen nicht mehr spielen“, fügte Tom hinzu, “Sie wollen überhaupt keinen Spaß mehr haben. Ihr ganzes Leben ist ihnen auf einmal egal.“
„Und sie versuchen, uns unsere Träume auszureden“, sagte Tullio, und Flavia nickte.
„Aber woran liegt das?“, fragte Silvana. „Und was sollen wir tun?“
„Vielleicht“, meldete Flavia sich zu Wort, „können wir den alten Giovanni fragen.“
„Aber der ist erwachsen“, warf Aulus ein, „und wenn alle Erwachsenen sich so verändert haben, dann auch er.“
„Er ist anders“, sagte Silvana. „Außerdem wissen wir nicht, ob die Erwachsenen das Problem sind. Zwar deutet alles darauf hin, aber wir haben keine Beweise. Wenn uns jemand helfen kann, dann er.“
Silvana kannte den alten Mann gut und suchte ihn regelmäßig auf. Sie saßen oft lange zusammen und stellten sich gegenseitig Rätsel. Niemand wusste, woher Giovanni kam, er schien schon immer da gewesen zu sein. Die meisten Dorfbewohner misstrauten ihm, denn er hatte keine Familie, lebte sehr zurückgezogen und mied jeden Kontakt, so gut es ging. Doch den Kindern war klar, dass er mehr wusste, als die Leute annahmen. Manche von ihnen waren sogar der Meinung, dass er irgendeine Art von Zauberer sein musste.



1 mal bearbeitet. Zuletzt am 22.04.17 10:00.

Diese Geschichte erinnert mich mehr und mehr an "Momo"

Bin gespannt auf die Fortsetzung!

Mega spannend

Danke für das positive Feedback! Das gibt mir Motivation, möglichst bald weiterzuschreiben. Wenn ich mal in einer kreativen Krise stecke, lese ich mir die netten Kommentare durch und bin gleich motivierter. :D

Nichts zu meckern ;-)
Wie alt ist Silvana eigentlich etwa? Im ersten Teil habe ich sie schon fast für eine Teenagerin gehalten...