Geschichte: Der Turm der verlorenen Träume VIII


 Der Turm der verlorenen Träume VIII
Buch:
  Der Turm der verlorenen Träume
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 13.06.2017 16:52

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Silvana erwachte, und es war heiß wie im Hochsommer, obwohl der Mai gerade erst begonnen hatte. Nach einem kurzen Frühstück machten die beiden Reisenden sich auf den Weg.
„Woher kommst du?“, fragte Silvana, als sie ein wenig gegangen waren. „Warum hast du dich in unserem Dorf versteckt?“
„Versteckt?“, Giovanni hob die Augenbrauen. „Ich habe mich nicht versteckt.“
„Was hast du sonst getan?“
„Ich bin ein alter Mann“, sagte er. „Ich brauche einfach einen ruhigen Ort für den Abend meines Lebens.“
„Gut, sag es mir nicht“, seufzte Silvana. Kurz herrschte Schweigen.
„De Zauberkräfte“, sagte Silvana dann, „hattest du sie schon immer?“
„Ich bin mit der Veranlagung zur Magie geboren“, antwortete Giovanni, „Alles Weitere habe ich von meinem Meister gelernt.“
„Die Veranlagung?“, hakte Silvana nach.
Giovanni nickte. „Es kommt nicht darauf an, woher du kommst oder wer deine Eltern sind. Jeder kann die Veranlagung haben. Ich glaube sogar, dass viele Menschen sie besitzen. Sie wissen es nur nicht.“
Silvana hielt den Atem an. Bedeutete das etwa, dass auch sie die Veranlagung besitzen konnte?
„Giovanni lächelte, als hätte er ihre Gedanken erspürt.
„Hattest du je einen Traum, in dem dir plötzlich klar wurde, dass du träumtest?“, fragte er. Verwirrt nickte Silvana. Das kannte sie, aber warum fragte er danach?
„Klarträume nennt man so etwas“, erklärte Giovanni. „Oder auch luzides Träumen.“
„Heißt das“, fragte Silvana aufgeregt, „dass man ein Zauberer werden kann, wenn man Klarträume hat?“
Der Alte winkte ab. „Jeder hat einen irgendwann im Leben. Es geht darum, in welchem Maße du in der Lage bist, den Fortgang deines Traumes zu beeinflussen.“
Silvana runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“
„Keine weiteren Fragen“, entschied Giovanni. „Jedenfalls nicht jetzt.“
Silvana stöhnte. „Komm schon!“, rief sie. „Du kannst mir doch nicht die Hälfte erzählen und mich dann sitzen lassen!“
„Du siehst doch, dass ich es kann“, erwiderte Giovanni. „Dein Eifer ist lobenswert, aber Geduld musst du noch lernen.“
Also versuchte Silvana, geduldig zu sein. Heute Abend würde sie ihn wieder fragen. Und diesmal würde er ihre Fragen nicht umgehen können.
Die Landschaft um sie herum wurde immer hügeliger. Die Felder wechselten sich ab mit weitläufigen Wiesen, auf denen Schafe und Kühe grasten. Mörtellose Steinmäuerchen zogen sich über die bewaldeten Hügel. Im Osten fiel das Land zu einem breiten, dunklen Fluss ab.
Es war kaum Mittag, als dunkle Wolken im Westen aufzogen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Tropfen fielen. Bald war der ganze Himmel bedeckt und der Regen rauschte sacht und gleichmäßig. Silvana genoss die erfrischenden Regentropfen, die über ihr Gesicht rannen und ihr Haar benetzten. Hin und wieder begegneten die beiden Reisenden anderen Wanderern oder einer vorbeiholpernden Kutsche.
Obwohl die Steigungen sanft schienen, spürte Silvana schnell, wie anstrengend es war, Hügel hinter Hügel zu besteigen.
Nach einigen Stunden ließ der Regen nach und hörte schließlich ganz auf. Im Westen klafften bereits blaue Löcher in der Wolkendecke, durch die goldene Sonnenstrahlen schräg auf Bäume und Wiesen fielen und die Farben zum Leuchten brachten. Die Luft roch sauber und frisch und ein leichter Wind schüttelte das Wasser aus den Kronen der Bäume.
Giovanni deutete in die blaue Ferne vor ihnen.
„Hinter diesem Hügel liegt Brendendorf“, sagte er, „Aber wir werden heute nicht mehr dorthin gelangen.“
Als die Sonne unterging, erreichten sie den Fuß des Hügels und schlugen ihr Nachtlager am Waldrand unter einer Gruppe Birken auf.
„Erzähl mir vom Träumen“, sagte Silvana. „Erzähl mir, wie ich meine Träume beeinflussen kann. Und was das alles mit Magie zu tun hat.“
„Du warst geduldig“, lächelte Giovanni. „Also gut. Wenn dir bewusst ist, dass du träumst, dann stehst du mit einem Schlag über dem Geschehen um dich herum. Mit ein wenig Übung kannst du alles in deinem Traum beliebig verändern. Du weißt, dass Träume aus deiner Vorstellungskraft entstehen und deshalb kannst du mit der Kraft deiner Gedanken die Umgebung verformen. Du kannst fliegen, mit Tieren sprechen oder lang verstorbene Menschen treffen." Seine Augen leuchteten. "Die Grenzen setzt nur deine Fantasie. Wir benutzen diese Art von Träumen, um Gelerntes zu verfestigen und unsere Kräfte auszubauen. Ich tue es jede Nacht.“
„Wie?“, fragte Silvana. „Passiert das nicht rein zufällig? Wie kannst du das kontrollieren?“
„Ich habe es bereits so oft getan, dass es von selbst passiert. Oft reicht es schon, sich am Abend davon zu überzeugen, dass man in der Nacht einen Klartraum haben wird. Oder du prüfst regelmäßig, ob du träumst. Wenn das Gewohnheit wird, setzt es sich im Traum fort und du kannst leicht erkennen, dass du träumst. Was du auch tun kannst, ist meditieren. Ich meditiere immer, bevor ich zu Bett gehe.“
„Nehmen wir an, ich hätte einen Klartraum“, sagte Silvana, „Was soll ich dann tun?“
„Ruhig bleiben “, antwortete Giovanni. „Plötzlich zu bemerken, dass man träumt, ist ein unglaublich aufregendes Gefühl. Aber du darfst dich davon nicht zu sehr mitreißen lassen. Sonst kann es passieren, dass du vor Aufregung aufwachst.“
„Ich bin ruhig“, sagte Silvana. „Und dann?“
„Die meisten beginnen mit dem Licht.“ Giovanni streckte die Hand aus und Silvana sah das blaue Leuchten, das seine Finger umspielte.
„Benutze deine Vorstellungskraft, um es heraufzubeschwören. Fühle, wie die Energie dich durchfließt und merke dir dieses Gefühl gut. Dann kannst du es im Wachen wieder aufrufen.“ Er schloss die Hand und das Licht verschwand.
„Wenn du die Veranlagung hast.“
Silvana war so aufgeregt, dass es lange dauerte, bis sie endlich einschlief.

 Re: Der Turm der verlorenen Träume VIII
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 14.06.2017 17:35
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Hm....es wäre eine sehr ungewöhnliche wendung, wenn sie nicht die Veranlagung hätte...

 Re: Der Turm der verlorenen Träume VIII
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 14.06.2017 18:43
Bewertung:
 

Wir werden sehen.

 Re: Der Turm der verlorenen Träume VIII
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 04.07.2017 15:15
Bewertung:
 

Ich will das auch können!

 Re: Der Turm der verlorenen Träume VIII
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 04.07.2017 18:39
Bewertung:
 

Das kann man lernen (klarträumen meine ich). Ich bin schon dabei und habe es sogar schonmal geschafft, bewusst einen luziden Traum herbeizuführen. (Aber ob man dadurch Magie erlernen kann, das weiß ich nicht) ;-)