Geschichte: Der Turm der verlorenen Träume IX


 Der Turm der verlorenen Träume IX
Buch:
  Der Turm der verlorenen Träume
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 24.06.2017 14:02

Mit schweißnassen Händen klammerte sie sich an die eiserne Stange und zog sich mühsam höher. Unter ihr war das Land bereits hinter einer Wolkendecke verschwunden. Höher. Sie musste höher. Sie war überzeugt: Alle ihre Wünsche würden dort oben in Erfüllung gehen.
Doch plötzlich, ohne Vorwarnung, war die Stange zu Ende.
Sie blickte nach unten. Die Wolken hatten sich aufgelöst und das Land erstreckte sich scheinbar endlos in alle Richtungen. Erst jetzt bemerkte sie, in welcher schwindelerregenden Höhe sie sich befand. Obwohl ihre Hände schmerzten, klammerte sie sich an die Stange, so fest es ging, um nicht abzurutschen. Sie konnte nicht weiter, doch genauso wenig konnte sie nach unten. Wie war sie nur in diese Situation geraten?

Silvana schreckte aus dem Schlaf. Der Himmel war dunkel und bedeckt. Eine Weile lag sie nur da, hörte auf das Klopfen ihres Herzens und freute sich, dass sie nur geträumt hatte. Dann setzte sie sich auf. Giovanni war noch wach. Oder war er schon wach?
„Wie spät ist es?“, fragte sie. „Kaum Mitternacht“, antwortete er, ohne sich umzuwenden.
Sie blickte sich um, um zu sehen, wohin er schaute. Und sofort sah sie es: die beiden Reisenden waren umschwirrt von unzähligen Lichtpunkten. Wie goldene Funken schwebten sie durch die Nacht.
„Glühwürmchen“, flüsterte Silvana. Giovanni schüttelte den Kopf. „Irrlichter.“
Silvana blickte ihn an. „Was? Aber – aber die gibt es doch nur im Märchen!“
Giovanni antwortete nicht. Stattdessen nahm er den kleinen Tonkrug, der neben ihm stand, steckte den Finger hinein und zog ihn wieder heraus.
„Was ist das?“
„Honig.“
Sobald Giovanni einen Tropfen der zähen, goldenen Masse auf seinem Finger hatte, kam eines der leuchtenden Wesen angeschwebt und ließ sich auf seiner Hand nieder. Silvana kroch näher, um es zu betrachten. Das erste, was sie sah, waren vier durchsichtige, libellenartige Flügel. Doch als sie näher kroch, verschlug es ihr den Atem. Das Tier, das sie zuerst für ein Insekt gehalten hatte, war ein winziger Drache! Seine Glieder waren so filigran und zerbrechlich, als könnten sie beim leichtesten Windstoß zu Staub zerfallen. Sein zarter Körper war durchsichtig wie Glas und aus dem Inneren seiner Brust drang goldenes Licht.
Schweigend bewunderten die beiden die Schönheit des Tieres, das den Honig von Giovannis Finger schleckte, und Silvana fragte sich, warum sie noch nie zuvor ein Irrlicht gesehen hatte.
Schließlich wies der Alte sie an, noch ein wenig zu schlafen, und mit einem Lächeln auf dem Gesicht kroch Silvana zurück unter ihre Decke. Von Irrlichtern umschwirrt schlief sie ein und träumte von Glühwürmchen und gläsernen Drachen.

 Re: Der Turm der verlorenen Träume IX
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 24.06.2017 14:04
Bewertung:
 

Eigentlich wollte ich nicht mehr als zwei Teile hintereinander veröffentlichen, aber der Betrieb hier scheint mal wieder ein bisschen eingeschlafen zu sein.

 Re: Der Turm der verlorenen Träume IX
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 25.06.2017 19:05
Bewertung:
 

Ja...

 Re: Der Turm der verlorenen Träume IX
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 04.07.2017 15:17
Bewertung:
 

Jetzt bin ich wieder da :D

Deine Beschreibung von den Irrlichtern gefällt mir. Ich mag Drachen.

 Re: Der Turm der verlorenen Träume IX
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 04.07.2017 18:40
Bewertung:
 

Ich auch!