Geschichte: Der Turm der verlorenen Träume XII


 Der Turm der verlorenen Träume XII
Buch:
  Der Turm der verlorenen Träume
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 16.07.2017 16:08

Als Silvana erwachte, erinnerte sie sich sofort daran, was sie vergessen hatte. Das Licht. Sie hatte es nicht einmal versucht. Zerknirscht berichtete sie Giovanni davon.
„Ich fürchte-“, sagte er, „Auch wenn es widersprüchlich klingt – Du bist zu verträumt. Du lebst zu sehr in deiner eigenen Welt.“
Verwirrt runzelte Silvana die Stirn.
„Aber hast du mich nicht ermutigt, zu träumen? Hast du nicht gesagt, Träume seien etwas Unentbehrliches?“
„Ja“, sagte Giovanni. „Du sollst träumen, wann immer du willst und deine Wünsche verfolgen. Doch in der Zwischenzeit – geh mit offenen Augen durch die Welt. Sei wachsam. Nimm deine Umgebung mit allen Sinnen wahr. Achte auf kleine Details, die dir zeigen könnten, ob du träumst.“

Je länger sie miteinander unterwegs waren, desto mehr wuchs Silvanas Bewunderung für Duc. Er sah so viele Dinge im Grün der Blätter, an denen sie selbst einfach vorbeigegangen wäre. Er lehrte sie, Spuren verschiedener Waldtiere auseinanderzuhalten und anhand von Kot und abgenagten Tannenzapfen oder fallengelassenen Fruchtkernen zu erkennen, welches Tier vor wie langer Zeit vorbeigekommen war.
Der Wald um sie herum wurde dichter. Nachts saß Silvana noch lange wach am Feuer und starrte in die Schatten. Sie wusste, dass es hier nichts geben konnte, das gefährlicher war als ein Fuchs, oder jedenfalls hoffte sie das. Doch ihre Fantasie spielte verrückt, malte leuchtende Augen in die Dunkelheit, aufblitzende Zähne und kalte schwarze Hände, die nach ihr griffen. Dazu kam das leise, aber allgegenwärtige Knarren der Bäume. Oft schon war Silvana herumgefahren, weil sie glaubte, etwas hinter sich gehört oder eine leichte Berührung gespürt zu haben. Doch da war nichts, nur Schatten.
In diesen Momenten wünschte sie sich nichts mehr, als wieder zu Hause in ihrem Bett zu liegen.
Tagsüber aber, wenn Duc sie durch den Wald führte, der nun, da der Sommer begonnen hatte, sein prächtigstes Kleid trug, konnte sie nicht glücklicher sein.
Wenn die Reisenden abends ihr Lager aufschlugen, streifte Silvana allein durch den Wald und sammelte Feuerholz.
Bei einem ihrer Ausflüge gelangte sie schließlich an eine Stelle, wo die Bäume weniger dicht standen, ihre Kronen aber noch immer groß genug waren, um den Himmel auszusperren. Die geraden Stämme der Bäume sahen aus wie riesige Säulen, über die sich ein Dach aus grünem Glas spannte. Staunend blickte Silvana sich um.
Doch plötzlich zerplatzten ihre Gedanken wie eine Seifenblase.
Da war etwas!
Sie konnte nicht sagen, ob sie etwas gehört oder gesehen hatte, doch sie wusste ganz genau, dass etwas – oder jemand – sie anstarrte.
Da krachte es im Gestrüpp zu ihrer Rechten. Instinktiv warf Silvana sich auf den Boden – gerade rechtzeitig. Ein Schatten flog über sie hinweg und landete auf sechs schwarzen Pranken.
Silvana packte einen Stock von denen, die sie gesammelt hatte, und rollte sich zur Seite. Als sie aufblickte, sah sie zuerst nur einen Schatten, eine unförmige schwarze Masse, die sich über ihr aufbäumte. Dann erkannte sie einen riesigen, bärenartigen Kopf mit kleinen, blaugrünen Augen, die sie wild und grausam anstarrten. Die Kreatur hatte sechs kräftige Beine, die sie so kontrolliert und geschmeidig bewegte wie eine Spinne. Ein tiefes Knurren drang aus ihrer Kehle, als sie das Maul öffnete und die riesigen gelben Zähne zeigte.
Silvana schrie.
Das Tier stieß sich vom Boden ab und sprang auf sie zu. Silvana hob den Ast und ließ ihn mit einem Schrei auf den massiven Schädel der Kreatur krachen.
Der Stock zerbrach wie ein dünner Zweig. Das Tier hielt inne, taumelte kurz, schüttelte den Kopf und richtete seine stechenden, katzenhaften Augen wieder auf Silvana. Die senkrechten Pupillen verengten sich und das Knurren schwoll zu einem Grollen an.
Es war nun nicht mehr nur ein hungriges Raubtier. Es war ein Engel des Zornes. Noch nie hatte seine Beute sich so gegen es gewehrt. Noch nie war es so beleidigt worden.
Silvana wich zurück, die Hälfte des zerbrochenen Astes noch immer umklammernd, obwohl das sie nicht mehr beschützen konnte.
Plötzlich wurde ihr klar, dass sie das hier nicht überleben würde. Dass sie im Magen dieses Ungeheuers enden würde, wenn nicht – sie konnte den Gedanken nicht mehr zu Ende führen.
Das riesige Maul der Kreatur schnellte vorwärts. Blitzschnell sprang sie zur Seite, einen Wimpernschlag bevor die mächtigen Kiefer aufeinander krachten.
Verzweifelt suchte Silvana nach etwas, das ihr sagen konnte, dass das alles nur ein Traum war. Doch sie wusste bereits – es war echt.



1 mal bearbeitet. Zuletzt am 19.07.17 09:32.

 Re: Der Turm der verlorenen Träume XII
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 16.07.2017 16:12
Bewertung:
 

Bald sind Ferien. Das heißt, ich werde eine Weile an einem Ort sein, wo ich kein Internet habe und deshalb nichts hochladen kann. Das heißt auch, dass ich euch bei diesem wundervollen Cliffhanger... hängen lassen werde. :))
Ich kann nur hoffen, dass in der Zwischenzeit nicht die Bibliothek zusammenbricht - falls ihr versteht, was ich meine...

 Re: Der Turm der verlorenen Träume XII
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 16.07.2017 20:15
Bewertung:
 

Oh ja....Cliffhanger sind doch was Schönes...

 Re: Der Turm der verlorenen Träume XII
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 19.07.2017 07:16
Bewertung:
 

Puh, das ist echt eine gemeine Stelle für einen Cliffhanger, aber ich kanns verstehen. Ich kann im Moment auch nichts Längeres schreiben.

Eine Verbesserung habe ich allerdings:

"Die Kreatur hatte sechs kräftige Beine, die sie so kontrolliert und geschmeidig bewegte wie eine Spinne. Ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle..."
Ich denke, es klingt besser mit "ihrer Kehle" da du zuvor von einer Kreatur (f) schreibst.

 Re: Der Turm der verlorenen Träume XII
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 19.07.2017 09:31
Bewertung:
 

Stimmt.