Geschichte: Viva


 Viva
Buch:
  -
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 24.04.2018 15:46

Nach außen hin zeigte Viva keine Gefühle, als sie der von Platanen gesäumten Straße nach Hause folgte. Sie fragte sich nicht, was ihre Lehrerin oder ihre Mitschüler von ihr dachten. Natürlich würde es Konsequenzen haben, dass sie mitten im Unterricht nach draußen gestürmt war.
Doch auch darüber dachte sie nicht nach.
Alles, woran sie denken konnte, war das Geheimnis.
Sie war endlich dahinter gekommen. Es hatte ja reichlich lange gedauert.
Nun, vollkommen sicher war sie sich noch nicht. Doch was sie jetzt plante, würde auch die letzten Zweifel aus dem Weg räumen.
Die Sonne drang durch die Baumkronen und sprenkelte das Kopfsteinpflaster.
Viva blieb im Schatten.
Durch die Blätter sah sie den blauen Himmel. Blau? Wie konnte sie überhaupt sicher sein, dass er blau war? Natürlich war es das, was alle immer sagten. Doch wie konnte sie sicher sein, dass die Anderen dasselbe unter „blau“ verstanden wie sie? Konnte sie überhaupt noch über irgendetwas sicher sein?
Äußerlich mochte sie wie jede Andere sein. Sie war aufgewachsen wie jedes Kind, hatte Laufen und Sprechen gelernt, war in die Schule gekommen, hatte Freunde gefunden. Doch wenn ihre Vermutung stimmte, war all das nur eine Maske.
Eine Maske, von der Viva selbst glaubte, sie wäre ihr wirkliches Gesicht.
Eine Maske, mit der sie geboren war und die sie niemals würde ablegen können.
Denn Viva war nicht wie die Anderen.
Nur, wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass etwas nicht passte.
Es war wie wenn man eines Morgens aufwacht und alles im Zimmer ist auf einmal zehn Zentimeter größer. Man spürt, dass irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte, doch man kann nicht festmachen, woran es liegt.
Bei ihrem Aussehen fing es an. Viva war ein hübsches Mädchen. Und doch hatte sie bemerkt, dass sich Andere unter ihrem Blick oft unwohl fühlten. Sie hatte lange nach dem Grund gesucht. Schließlich fand sie heraus, was es war: Der helle Ring um ihre Pupille, der manchmal fast zu leuchten schien. Bei ihren Mitmenschen hatte sie so etwas noch nie gesehen.
Abgesehen von diesem Detail sah Viva aus wie das Kind ihrer Eltern.
Ihre Mutter hatte ihr die Geschichte ihrer Geburt nie erzählt. Nicht einmal, in welchem Krankenhaus sie zur Welt gekommen war, wollten ihre Eltern ihr verraten.
Den Grund wusste Viva nun: Sie war nie geboren worden.
Die Menschen, die sie ihre Eltern nannte, waren unfruchtbar.
Natürlich liebten sie ihr Kind und wollten ihr ein erfülltes Leben ermöglichen. Sie hatten Viva nicht mit der Wahrheit belasten wollen.
Deshalb hatten sie ihr ein außergewöhnliches künstlerisches Talent gegeben. So war die Wahrscheinlichkeit kleiner, dass ihre Tochter ein Interesse an Wissenschaft und Technik entwickelte und das Geheimnis lüftete.
Viva lächelte.
Bestimmt war das eine schwere Entscheidung für ihre Eltern gewesen. Schließlich waren sie beide Wissenschaftler und hätten Viva sicher gerne als Nachfolgerin gehabt.
Ihr eine Leidenschaft für Kunst zu geben war natürlich ein cleverer Trick.
Doch genau das hatte wesentlich zu Vivas Verdacht beigetragen.
Sicher, sie konnte mit unglaublicher Präzision zwei- und dreidimensionale Vorlagen auf ein Blatt Papier übertragen. Sie hatte die menschliche Anatomie und das Verhalten von Licht und Schatten verinnerlicht und war in der Lage, einen Menschen in jeder erdenklichen Position und mit allen Lichtverhältnissen, die Lampen zu schaffen imstande waren, aus dem Kopf aufs Papier zu zaubern.
Doch das war keine wirkliche Kreativität.
Kreativität ist die Fähigkeit, etwas Neues zu erschaffen. Viva konnte nur bereits Gesehenes abbilden.
Ja, Viva war fast menschlich, nur einen Schritt davon entfernt, ein Mensch zu sein. Ihre Eltern hatten gute Arbeit geleistet. Gut, aber nicht perfekt.
Viva erinnerte sich daran, wie sie angefangen hatte, alles zu hinterfragen. Es war ein Spiel gewesen, das sie oft mit ihren Freunden gespielt hatte.
„Was wäre wenn?“ hatten sie es genannt.
Das Spiel bestand darin, sich alle möglichen haarsträubenden Szenarien auszudenken und zu versuchen, diese zu beweisen.
„Was wäre, wenn wir alle in einer Computersimulation leben?“
„Was, wenn die Aliens schon unter uns sind?“
„Was, wenn wir keine Menschen sind und nur glauben, welche zu sein?“
Was, wenn sie kein Mensch war? Damit war der Samen des Zweifels in ihrem Kopf gepflanzt.
Viva wurde niemals krank. Nur hin und wieder hatte sie eine leichte Erkältung, doch zum Arzt musste sie nie. Das war der erste Funken gewesen, das erste Tröpfchen Wasser, das ihren Zweifel nährte. Sie hatte sich noch nie verletzt. Nicht ein einziger Tropfen Blut hatte je ihren Körper verlassen.
Heute Morgen hatte sie eine Nadel mit in die Schule gebracht. Heimlich hatte sie das spitze Ding unterm Tisch aus der Tasche geholt. Es kostete einige Überwindung, sich damit in den Finger zu stechen. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, damit der Schmerzenslaut ihrem Mund nicht entkam.
Vorsichtig blickte sie unter den Tisch.
Nichts.
Kein Blut, kein einziges Tröpfchen.
Sie untersuchte die Spitze der Nadel. Auch daran klebte kein Blut.
Viva hatte sich nicht mehr halten können. Sie hatte ihre Tasche aufgehoben und war aus dem Raum gestürmt.
„Wo willst du denn hin?“, hatte die Lehrerin noch gerufen.
Dort hinten, wo die Straße eine Biegung machte, konnte Viva bereits ihr Haus erkennen.
Fürchtete sie sich? Es war schwer zu sagen. Natürlich hatte sie Gefühle wie ein Mensch. Oder? Sie konnte nicht wissen, ob dem wirklich so war. Woher sollte sie auch wissen, wie Menschen die Welt sahen? Woher sollte sie wissen, ob das, was sie als Liebe wahrnahm, auch wirklich das von allen so gelobte Gefühl war? War sie nur programmiert zu glauben, dass sie fühlen konnte?
War sie nur programmiert zu glauben, dass sie ein Bewusstsein hatte? Dass sie einen freien Willen hatte?
War all das nur eine Illusion?
Viva lief die Straße entlang auf ihr Haus zu.
Dann bog sie plötzlich nach links ab. Ihr Schritt beschleunigte sich. Hastig blickte sie zu beiden Seiten. Sie hatte auf einmal das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
Was würde geschehen, wenn sie aus der Programmierung ausbrach? War das überhaupt möglich für sie? War jeder Schritt, den sie tat, schon seit ihrer Erschaffung festgeschrieben?
Dort begann der Wald. Manchmal führten die Leute hier ihre Hunde aus, doch um diese Zeit war niemand da.
Viva rannte tiefer und tiefer in den Wald, bis sie sicher war, dass niemand sie finden würde. Dann warf sie ihre Tasche auf den Boden und wühlte darin herum.
Dort war es, eingewickelt in ein Tuch. Das Messer, das sie heute Morgen von zu Hause hatte mitgehen lassen.
Hastig packte sie es aus und setzte sich auf den Boden. Ihre Hand zitterte, als sie die Spitze an ihren Unterarm führte. Nun würde sie es herausfinden. Nun würde sie herausfinden, ob ihr Verdacht stimmte. Ob sie eine KI war, eine künstliche Intelligenz.
Viva zögerte. Ihr Selbsterhaltungstrieb war stark. Natürlich. Ihre Programmierung sah nicht vor, dass sie es je herausfand.
Sie holte tief Luft und drückte die Spitze gegen ihre Haut. Fast wie Stoff spannte diese sich unter dem Druck der Klinge. Viel elastischer als Menschenhaut schien sie zu sein.
Viva biss die Zähne zusammen und zählte still bis drei. Dann drückte sie zu und zog die Klinge mit einem Ruck über ihren Arm.
Das Messer zerschnitt die Haut wie eine Scheibe Käse. Viva stöhnte vor Schmerz laut auf und ließ die Klinge fallen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie hinsehen konnte.
Und was sie sah, drehte ihr den Magen um.
Blut.
Dick und dunkelrot quoll es aus der Wunde. Fassungslos starrte Viva es an. Übelkeit stieg in ihr auf und sie begann, zu keuchen. Dunkle Flecken krochen in ihr Blickfeld. Noch bevor ihr Kopf auf dem Boden aufschlug, hatte die Schwärze sie vollständig eingehüllt.

Als Viva aufwachte, spürte sie keinen Schmerz mehr. Sie setzte sich auf. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen war sie nicht lange bewusstlos gewesen.
Viva blickte an sich herunter, in Erwartung, das Gras und ihre Kleidung blutgetränkt vorzufinden.
Doch da war nichts.
Über ihren Arm zog sich ein sauberer Schnitt, doch nirgendwo war auch nur der winzigste Blutfleck.
Was war geschehen?
Mit zitternder Hand strich sie über den Schnitt und zog die Haut auseinander. Sie spürte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte, als wollte es jeden Moment aus seinem knöchernen Käfig ausbrechen.
Das Sonnenlicht fiel durch den Schlitz auf zwei chromartig glänzende, metallene Stäbe. Dazwischen verlief ein dünner Schlauch, in dem eine gelbliche Flüssigkeit pulsierte. Unzählige, glitzernde Fädchen, dünner als ein Haar, umspannten die metallenen Knochen wie ein Spinnennetz und traten an der Innenseite in die Haut ein.
Viva stieß geräuschvoll die Luft aus. Sie hatte sich nicht geirrt.
Angst, Freude, Enttäuschung, Traurigkeit, all das durchströmte sie gleichzeitig. Doch auf ihrem Gesicht zeigte sich ein Lächeln.
Alles ergab auf einmal Sinn.
Ihre Eltern hatten unbedingt ein Kind gewollt. Viva war der größte Erfolg ihres Lebens gewesen. Und sie hätte es beinahe nicht herausgefunden.
Die Halluzination, der letzte Trick der Programmierer, hätte sie beinahe hinters Licht geführt. Jetzt wusste sie die Wahrheit.
Viva war kein Mensch. Sie war eine KI.
Doch was nun?



1 mal bearbeitet. Zuletzt am 24.04.18 15:56.

 Re: Viva
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 24.04.2018 15:56
Bewertung:
 

Diese Geschichte werde ich zu einem Schreibwettbewerb einsenden.
Das Thema ist "Geheimnis". Ich habe schon länger mit dieser Idee gespielt, seit wir in Philosophie einen Film über das Thema KI gesehen haben (Ex Machina).
Irgendwie finde ich die Vorstellung faszinierend, dass alles anders ist als man denkt und man das ganze Leben lang hinters Licht geführt worden ist (wie zum Beispiel in Matrix). Es macht Spaß, alles zu hinterfragen. :D

 Re: Viva
Autor:
 Karakoff (Profil)
Datum:
 29.04.2018 10:19
Bewertung:
 

Ein super Geschichte!
Ich bin froh, nicht in Vivas Haut zu stecken. Es wünschen sich so viele Menschen, etwas besonderes zu sein, aber dieses Schicksal möchte ich nicht mit ihr teilen...

"Es war wie wenn man eines Morgens aufwacht und alles im Zimmer ist auf einmal zehn Zentimeter größer."
Ich glaube, hinter das "war" muss noch ein Komma, kann mich aber auch irren, ich setze meistens zu viele Kommas...
Ansonsten habe ich auch gar nichts zu Meckern.

Mit dieser Gesschichte hast du sicher eine hohe Chance, zu gewinnen. :-)

 Re: Viva
Autor:
 Equestrice (Profil)
Datum:
 30.04.2018 11:25
Bewertung:
 

Diese Geschichte ist der Hammer!

Es wäre schon ein echt komisches und beängstigendes Gefühl wenn man plötzlich herausfinden würde, dass das ganze Leben bisher eine Lüge war und dass man gar kein echter Mensch ist *schauder*

Viel Glück beim Schreibwettbewerb obwohl ich jetzt schon glaube, dass dir der Sieg sicher ist ;-)

 Re: Viva
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 01.05.2018 11:48
Bewertung:
 

Danke für die lieben Worte!
Sobald ich rausfinde, ob ich gewonnen habe, teile ich es euch mit!

 Re: Viva
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 15.12.2018 16:10
Bewertung:
 

Ich habe gewonnen!