Geschichte: 1. KAPITEL Hilferufe


 1. KAPITEL Hilferufe
Buch:
  Wie ein Blatt auf weiter See
Autor:
 Heizdecke (Profil)
Datum:
 23.05.2018 00:04

Ich bin geboren 1972. Als drittes Kind einer Verkäuferin und eines Maurers. Vor mir kamen zwei Brüder zur Welt. Jeweils 2 und drei Jahre älter als ich.
Im Alter von ca. 11 Jahren ( ich weiß es heute nicht mehr wirklich genau) wurde ich in gemeinschaftlicher Tat von meinen Brüdern sexuell missbraucht.
Der jüngere Bruder hielt mich fest, während der ältere Bruder mir die Jungfräulichkeit nahm. Danach tauschten Sie.
Es tat weh. Ich habe geblutet. Es war ihnen egal. Sie hatten Spaß. Ich habe mich geschämt. Mich schmutzig gefühlt. Sie haben mich ausgelacht. Mir mit Schlägen gedroht, wenn ich was sage.
Mama hat nichts gemerkt. Papa war nie da.
Wenn ich heute drüber nachdenke, glaube ich, dass ich das hätte vielleicht gut hätte verpacken können, das es mir nur noch im Unterbewusstsein hätte sein könnnen,wenn es das einzige Mal gewesen wäre. Aber ich musste viele Päckchen packen. Und keines davon bleibt im Unterbewusstsein.

Heute bin ich 46 Jahre alt und ich möchte allen Mädchen, und vielleicht auch Jungen meine Geschichte erzählen. Ich weiß, wir sind nicht Wenige auf der Welt. Ich weiß, wir schweigen. Ich kann das nicht mehr und ich will das auch nicht mehr- schweigen. Warum schreibe ich das hier? Ihr wisst die Antwort!

Mit 46 Jahren möchte ich das Schweigen brechen. Warum jetzt?! Auch das kann ich erzählen,...

Nach dem ersten Missbrauch folgten viele.
Vielleicht könnt ihr verstehen, dass auch ich mir gewünscht hätte meine Jungfräulichkeit meinem ersten Freund zu schenken. Dies habe ich nie gekonnt. Und wenn man diese Worte einmal tief in sich hineinlässt, kann man erahnen, dass dieser Verlust noch viel schmerzhafter ist, als die Vergewaltigung. Mir wurde dieses erste Erlebnis genommen. Das tut auch Jahre später noch sehr weh.
Mit 13 bekam ich dann meine Tage. Und ich weiß noch, wie ich auf der Toilette saß und versuchte das Blut zum stillen zu bringen und dachte, " nun haben sie mich kaputt gemacht"...
es hörte nicht auf. Egal wie viel Toilettenpapier ich benutzte. Voller Panik rief ich nach meiner Mutter. Die anteilnahmslos sagte: " na toll, nun bist du eine Frau und kannst Kinder kriegen" und mir einen alten Waschlappen gab, weil sie keine Binden im Haus hatte.

Ich war nicht aufgeklärt. Zu meiner Zeit wurde in der Familie über sowas nicht gesprochen. Und der Sexualkunde Unterricht begann erst kurz danach.

Warum habe ich mich nicht meinen Eltern anvertraut?? Oder sonst jemanden? Heute scheint es unvorstellbar, dass man keine Worte für sowas hatte. Aber ich hatte keine.
Ich erinnere mich genau, wie ich zu meiner Mutter sagte " die Jungs fassen mir immer an den Busen, das tut weh" und meine Mutter den Zeigefinger hob und meinen Brüdern das verbot. Sie taten es dennoch weiter. Mädchen wissen, wie empfindlich die Burst ist wenn sie wächst. Wie weh es tut wenn man sie unsanft anfasst. Und wie weh es tut, wenn man sie unsanft anfasst von jemanden, der das nicht tun soll, tut noch einmal mehr weh.
Ich habe oft versucht mich jemanden anzuvertrauen. Aber entweder hatte ich nicht die passenden Worte, oder man wollte mich nicht verstehen. Ich weiß es nicht.

Als ich dann aufgeklärt wurde bekam ich tierische Angst. Was wäre, wenn ich von meinen Brüdern schwanger werden würde.
Könnt ihr Euch vorstellen wie es ist mit dieser Angst zu leben?? Jeden Tag???

Ich habe meine Mutter angefleht ausziehen zu dürfen. Sie hat mir den Vogel gezeigt und meinte, dass dürfte ich vom Gesetz her gar nicht. Warum ich ausziehen will hat sie nicht gefragt.
Ich bin zum Jugendamt gegangen, weil ich dachte meine Mama lügt, sie will mich nur nicht gehen lassen. Habe dort eine Frau gefragt ob ich mit 14 ausziehen dürfte. Sie hat mich ganz unheimlich und eindringlich angesehen und gefragt warum ich das denn wollte. Ich habe förmlich gemerkt, dass wenn ich den Grund sage, dass nicht gut ist. Das es Probleme gibt. Ich habe ihr gesagt, dass sie das nichts angeht und ich nur wissen will, ob ich ausziehen darf. Daraufhin meinte sie, dass ich mit dem Einverständnis meiner Eltern gehen könne. Als ich sie bat mir das schriftlich zu geben- schließlich wollte ich meiner Mutter das unter die Nase halten, damit ich dann auch gehen kann- fasste sie mich an den Arm. sah mir tief in die Augen und sagte " warum willst du von zu Hause weg" . Mir ist die Luft stecken geblieben. Ich konnte nicht ein- und nicht ausatmen. Ich hatte Angst der Frau was zu sagen. Zum einen schämte ich mich vor mir selbst, vor ihr, war noch nicht sicher und flüssig mit den Worten ( wie formuliert man das ??) und ich hatte das unheimliche Gefühl, wenn ich ihr was sage gibt es mächtig Ärger.
Heute weiß ich, dass sie es gut gemeint hat. Heute würde ich es ihr sagen. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich meinen Mund aufgemacht und meine Angst überwunden hätte. Sicherlich war es ein großer Fehler. Und wahrscheinlich kann man es nicht nachvollziehen, wenn man nicht in der Zeit und in der SItuation war. Ich habe geschwiegen. Ich hatte Angst. Ich wollte nur noch weg da. Als ich aufstehen wollte und mit Tränen in den Augen gehen, bat sie mich zu warten, gab mir ein Schreiben und wünschte mir viel Glück. Sie hatte einen komischen Blick. Heute weiß ich, dass er voller Sorge war. Und als sie mir Glück wünschte hörte ich auch, dass sie selbst nicht daran glaubte, dass ich mit diesem vermeidlichen Freifahrtschein meinem Mysterium entkommen konnte. Sie sollte Recht behalten.
Als ich mit diesem Schriftstück nach Hause kam, in dem stand, dass ich mit der Einverständniserklärung meiner Eltern ausziehen dürfte, bekam ich von meiner Mutter eine geknallt. Ich durfte in mein Zimmer gehen und bekam kein Abendbrot. Der Zettel landete im Müll. Das wars dann. Ich habe bitterlich geweint, und die Angst zu Hause hat mich fast aufgefressen.

Das war nicht mein einziger Versuch zu entkommen. Oh nein.
Da ich nun die direkte Konfrontation mit Helfern nicht mehr aushalten wollte Ich hatte Angst wieder in eine solche Situation zu kommen, in dem ich spüren musste, dass es nicht gut ist was zu sagen, dachte ich....mach es übers Telefon...
Ich bin angefangen Briefe zu schreiben. Es waren viele. Immer wenn ich auf dem Parkplatz im Auto warten musste, chrieb ich schnell einen Zettel / kleinen Brief und steckte ihn am Nachbarsauto hinter die Scheibenwischer. Es stand immer meine Nummer drauf und dass ich von Zuhause weg muss.
Oft habe ich noch im Auto gesessen, als die FahrerInnen neben uns wieder kamen und ich musste sehen, wie sie meinen Hilferuf einfach auf die Erde warfen. Manchmal ohne ihn gelesen zu haben. Manchmal hatten sie auch kurz gegrübelt und ihn dann weggeworfen. Und jedes Mal wenn mein Zettel auf der Erde landete, dachte ich ich bin verloren.

Ein einziges Mal hat sich eine Nonne gemeldet. Sie rief an und meine Mutter ging ans Telefon. Ich hörte nur Sequenzen " wer bist du?" Kenn ich nicht!" Bist du neu in der Schule?" : Dann wurde ich gerufen. Ich weiß noch, wie sehr mir das Herz pochte, als ich Frau am anderen Ende der Leitung sagte " Ich habe deine Nachricht gefunden". Meine Mutter wich mir nicht von der Seite.
Die Frau sagte, dass sie Nonne sei und sie mir gerne helfen wolle. Sie hätte meiner Mutter erzählt sie sei eine Schulfreundin von mir. Heute wäre es einfach, ein schnurloses Telefon zu nehmen und damit in sein Zimmer zu gehen. Damals stand das Telefon im Flur, war verkabelt und meine Mutter stand daneben. Ich sagte nur " Ist gut, hat sich erledigt" und die Nonne versicherte mir, dass sie nichts weitererzählen würde. Aber ich konnte nicht sprechen. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich habe mich bedankt, dass weiß ich noch. Wie ich das Gespräch beendete weiß ich nicht mehr.
Ich weiß aber noch sehr genau, dass ich mich selbst dafür hasste wieder nix sagen zu können.



1 mal bearbeitet. Zuletzt am 23.05.18 01:54.