Geschichte: Sinus Lacrimae


 Sinus Lacrimae
Buch:
  Sinus Lacrimae
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 03.09.2018 14:57

Schwarz wie Öl umspülte das Wasser die Pfähle der Häuser. Die salzige Luft waberte schwer um die spitzen Schilfdächer. Hier und da hingen gelbe Laternen in der Luft, als seien sie darin steckengeblieben. Gerade lugte der milchige Mond zwischen den dunklen Wolken hervor. Leise knarrend schwankten die Hängebrücken, obwohl kaum ein Windhauch die glänzende Haut des Wassers kräuselte.

In das leise Platschen mischte sich das hölzerne Geräusch von Schritten, als eine einsame Gestalt langsam über eine der Brücken ging. Sie blieb stehen, drehte sich zum blassen, runden Mond und blickte hinaus aufs Meer, das in der Ferne in den schwarzen Himmel überging. Es war so still wie schon lange nicht mehr. Der Sturm konnte nicht mehr weit sein.

Wie weiße Asche tanzte das Licht des Mondes auf den Wellen.
Da kräuselte sich im Schatten eines Hauses die Wasseroberfläche, als hätte jemand einen Stein hineingeworfen. Eine Hand hob sich langsam aus dem Wasser, eine glänzende Hand, bedeckt von blauen Schuppen. Zwischen den langen, knochigen Fingern spannten sich durchscheinende Häute wie Spinnweben. Die Hand fand einen der Pfähle, auf denen das Haus stand, und klammerte sich an das glitschige, rissige Holz. Eine zweite Hand glitt tropfend über die grünliche Haut aus schleimigen Algen, die das dünne Bein des Hauses bedeckte. Dann tauchte lautlos ein Kopf aus dem Wasser und blickte hinauf zur Gestalt auf der Brücke, die ihm den Rücken zukehrte.

Finns Augen glitten über das vom Mond gestreichelte Meer. Er genoss die Stille und den Geruch der Nacht. Doch plötzlich fiel sein Blick auf eine Bewegung im Wasser. Wie eine Schlange glitt etwas durch die Wellen.
Finn stand dort wie unter einem Zauber, der seinen Körper versteinerte. Sein Herz hallte in seinem Schädel wie Trommelschläge in einer leeren Höhle. Sein Magen verkrampfte sich. Er sah, wie zwei bleiche Punkte aus der Dunkelheit zu ihm heraufstarrten und sich ihm schlängelnd näherten. Finn spürte den kalten Griff der Furcht in seinem Nacken.
Im gleichen Moment wurde der blasse Mond von den schwarzen Wolken verschlungen und das Leuchten der Augen im Wasser erlosch.
Finn hörte ein leises Platschen unter sich. Als die Panik wie eine schleimige Klaue nach ihm griff, riss er sich aus seiner Starre, drehte sich um und rannte.



1 mal bearbeitet. Zuletzt am 22.09.18 18:42.

 Re: Sinus Lacrimae
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 03.09.2018 14:59
Bewertung:
 

Hehe. Wenn einem kein Titel einfällt, greift man einfach auf's Lateinische zurück und sofort hat man einen epischen Namen.

 Re: Sinus Lacrimae
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 03.09.2018 17:02
Bewertung:
 

Ich liebe atmosphärische Beschreibungen! Besonders wenn's leicht unheimlich wird!
Ich überlege die ganze Zeit, was Sinus heißt....“ohne“ wäre ja sine

 Re: Sinus Lacrimae
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 03.09.2018 17:45
Bewertung:
 

"Sinus"(m, u-Deklination) heißt "Bucht". Und auch "Busen". Ich habe es in meinem Wörterbuch nachgeschlagen und hatte mal wieder einen Aha-Moment: "Wow, Sinus heißt Bucht, daher kommt die Sinus-Kurve! Das ergibt so viel Sinn!"

 Re: Sinus Lacrimae
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 03.09.2018 17:47
Bewertung:
 

Außerdem geht "sine lacrimae" ja gar nicht - es müsste dann ja "sine lacrimis" heißen!

 Re: Sinus Lacrimae
Autor:
 Equestrice (Profil)
Datum:
 05.09.2018 05:10
Bewertung:
 

Ich hatte zwar auch Latein, aber auf sinus = Bucht wäre ich auch nicht gekommen 8-)