Geschichte: Autumn Winds


 Autumn Winds
Buch:
  Autumn Winds
Autor:
 Equestrice (Profil)
Datum:
 08.09.2018 09:10

Warme Sonnenstrahlen erfassten die vor mir liegende Stadt und liessen die Dächer der Häuser in einem verwaschenen Rotton erstrahlen. Die ersten Autos waren schon unterwegs, von Weitem konnte man nur das regelmäßige Rauschen der Motoren erfassen. Die Wiese lag noch im Schatten und war mit frischem Tau überzogen, später wird sie von grasenden Tieren besucht werden.

Ich atmete tief durch und wischte die Tränen weg. Rote Striemen zeichneten sich auf meiner Haut ab, wanderten meinen Arm hoch, wo der Nachgeschmack des Schmerzes noch zu fühlen war.

Es war wieder passiert.

Doch diesmal war es heftiger als die anderen Male.

Papa war schon frühmorgens betrunken gewesen. An den Gestank von Alkohol und Schweiss konnte ich mich deutlich erinnern, sowie an seinen fettigen Haaren und den glasigen Augen. Die Augen, in denen ansonsten Wärme lagen, erloschen unter dem Alkoholeinfluss zu kaltem Eis. Heute morgen hatte Mama etwas an seiner Sucht ausgesetzt, und er schlug sie. Schreiend ging ich dazwischen und steckte die Schläge ein, bis er schliesslich etwas Wirres brüllte und sich ins Schlafzimmer verzog.

Mama sass schluchzend auf dem Sofa, die Verzweiflung war ihr deutlich anzusehen. Ich konnte sie verstehen, denn ich spürte genau dasselbe. Bevor es mir zu viel wurde, schnappte ich meine Windjacke und rannte weg.

Und nun sass ich seit zwei Stunden da, in meiner einzigen Zuflucht vor der grausamen Realität der Welt, um vor ihrer Brutalität zu entfliehen. Ich beobachtete die wunderschönen Farben des Himmels und fragte mich verzweifelt, ob ich das verdient hatte. Die Schläge, die Tränen, all die ruhelosen Nächte. Sollte ich in der Blüte meiner Jugend nicht frei sein und Spass haben?

Doch dann rief ich mir Mama in Erinnerung und sofort lösten sich die vorherigen Gedanken in Luft auf. Um jeden Preis musste ich sie beschützen. Ich werde nicht zulassen, dass sie verletzt wird, versprach ich mir selbst und erhob mich von meinem Sitzplatz.

Etwas außer Atem erreichte ich schließlich die Bachholdstrasse. Unkraut zierte die Vorgärten der schäbigen Wohnhäuser und Wohnungen. Die einst weiße Fassade war verschmutzt und bröckelte an allen Ecken. Zusammen ergab dies ein trauriges Bild, an das ich mich schon längst gewöhnt hatte.

Ich nahm zwei Treppen auf einmal und fingerte den abgewetzten Schlüsselbund aus meiner Hosentasche. Mit einem Klick sprang die Tür auf und ermöglichte dem Besucher einen Blick auf den unordentlichen Eingangsbereich. Überall waren Schuhe und Jacken verstreut, an der Wand stapelten sich Kartons, weil wir kein Geld für Schränke hatten.

Mama stand in der Küche und schnitt Gemüse, doch ihr Blick war abwesend. Ich blieb stehen, sie hob den Kopf. Dunkle Augenringe verdunkelten ihre blutunterlaufenen Augen. Sie sah schrecklich aus.

"Ich gehe zu Joanne.", sagte ich. Mama wandte sich langsam ab, blickte wieder auf ihr Gemüse und schnitt ruhig weiter. "Ist das in Ordnung?", hakte ich vorsichtig nach. Apathisch nickte sie, während das Geräusch des Messers, das auf das Holzbrett schlug, die Leere in der Küche unterstrich.

Innerlich seufzte ich auf und wollte mich schon auf den Weg machen, als Moms Stimme die Stille durchschnitt. "Willst du dich nicht von Papa verabschieden?" Ich erstarrte in meiner Bewegung und drehte mich ungläubig zu ihr. Ihre Gesichtszüge waren verkniffen, doch ihre Augen strahlten eine seltsame Ruhe aus. Zögerlich nickte ich bevor ich die knarrenden Holzstufen hochstieg.

"Papa?", flüsterte ich leise, gleichzeitig spürte ich, wie sich ein Kloss in meinem Hals bildete. Quer über dem Bett schlief er in Jeans und T-Shirt, während er laut schnarchte. Langsam näherte ich mich dem Bett und augenblicklich schlug mir der Gestank von Alkohol und Schweiss entgegen. Ich spürte Wut in mir aufkochen, und ich musste mich beherrschen. 'Wie konntest du uns das antun.', dachte ich verzweifelt, während ich mich auf die andere Seite des Bettes setzte, 'Wo ist der Vater geblieben, den ich liebte?'

Anstatt eine Antwort auf die unzähligen Fragen in meinem Kopf zu geben, schnarchte er gelassen weiter. Ich spürte, wie Tränen meine Augen benetzten und die Erinnerungen krachten auf mich ein wie eine Welle. Ich als Kleinkind, an einem sonnigen Tag im Sandkasten. Eine grosse Hand, die mir eine gelbe Schaufel reichte. Papas breites Lächeln, als ich aufblickte. Mein fünfter Geburtstag, als ich die bunten Kerzen auf dem Schokoladenkuchen auspustete und Papa mich fest umarmte.

All diese Erinnerungen verblassten und liessen Platz für neue Bilder, Papa betrunken auf der Couch, die Schläge und den Schmerz, Mama weinend und kurz vor dem Zusammenbruch. Schliesslich erwachte ich aus meinen Gedanken und starrte traurig auf die schlafende Gestalt hinab.

In diesem Moment fühlte sich etwas wie ein Abschied an.

Menschen kommen und gehen, wie in einem Fahrstuhl. Manche steigen zu bestimmten Zeiten deines Lebens wieder aus, andere begleiten dich bis zum letzten Stockwerk.

Für mich war Familie immer der wichtigste Teil meines Lebens. Früher wusste ich, dass mich Mama und Papa bis zum letzten Stock bei mir bleiben würden. Doch jetzt brach meine Familie auseinander, und es fühlte sich so an, als würde mein Herz auseinandergerissen werden.

Innerlich steckte ich all meine Gefühle weg, schloss sie in der dunkelsten Ecke meines Kopfes ein und vernichtete den Schlüssel. Langsam erhob ich mich vom weissen Bettlaken und lief zur Tür. Ein letzter Blick über die Schulter. 'Tschüss Papa', verabschiedete ich mich leise, bevor ich mich wieder umdrehte und die Treppen hinunterlief.

Mama beobachtete mich mit verschränkten Armen, einen Moment lang lag in ihren Augen ein Schimmer von Verständnis. Doch dann senkte sie den Blick, und es fühlte sich wie ein Stich ins Herz an. Als ich die Tür aufriss, schlug mir der kühle Herbstwind entgegen. Laub raschelte unter meinen Schuhen, als ich meine Schritte beschleunigte und schliesslich die Bushaltestelle erreichte. Ich stieg in den Bus und sah zu, wie unser Haus immer kleiner wurde und schliesslich verschwand.

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"Das ist aber wirklich nicht passiert, oder?", fragte Joanne ungläubig, während sie auf einem Käseflip herumkaute. Ich seufzte. Nachdem ich Joanne alles erzählt hatte, fühlte ich mich besser. Sie war die einzige, die meine Situation verstand, die einzige, mit der ich reden konnte. "Hier, das heitert dich bestimmt auf.", nuschelte sie mit vollem Mund und kramte eine riesige Schokoladentafel hervor. "Du kennst mich zu gut.", schmunzelte ich und umarmte sie fest. "Doch was soll ich jetzt tun wegen Papa?"

Joanne schluckte und meinte gleich daraufhin mit ernster Stimme: "Du solltest wirklich ein Gespräch mit deiner Mom führen. Ihr könntet deinen Vater in eine Entzugsklinik einweisen." Ich brach ein Stück der Schokolade ab und steckte sie in den Mund. Der herrlich bittere Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, und ich seufzte genüsslich auf. "Er würde nicht freiwillig gehen.", entgegnete ich. Joanne sah mich mit ernster Miene an. "Helene, ich weiss, wie schwer dich das alles belastet. Und ich weiss, dass es nur noch schlimmer wird, wenn niemand Massnahmen ergreift."

Ich dachte über ihren Rat nach. Doch meine Gedanken waren sozusagen auf Negativität gepolt, weshalb ich keinen Sinn darin fand. Schliesslich gab ich es auf und bearbeitete einfach meine Schokoladentafel. Eine Weile sagte niemand etwas. Bis mein Klingelton die Stille durchriss.

Ich blickte aufs Display. Ein unbekannter Anrufer.

Mein Handy kingelte weiter.

Joanne riss fragend die Augenbrauen hoch.

Als sich die Melodie zum vierten mal wiederholte, drückte ich auf die Annahmetaste und hielt mein Handy ans Ohr.

"Hallo?"

"Spreche ich da mit Helene Pfister?", ertönte eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher.

"Ja, wieso?", fragte ich zögerlich, während ich mich wunderte, wer das sein könnte.

"Sie müssen unvermittelt in die Bachholdstrasse kommen", antwortete die Person streng. "Ich bin Polizeibeamte, Wörner ist mein Name."

Erschrocken bedeutete ich Joanne, dass ich gehen musste und verabschiedete mich mit einem Luftkuss, während sie mir lautlos viel Glück wünschte.

Und zum gefühlt hundersten mal an diesem Tag rannte ich aus der Tür, während ich mein Handy weiterhin ans Ohr hielt. "Was ist passiert?", keuchte ich atemlos, nachdem ich die Bushaltestelle erreicht hatte.

"Miss, es tut mir leid, aber ich kann es Ihnen nicht am Telefon - "

"Sagen Sie schon!", brüllte ich. Eine alte Dame zuckte zusammen und sah mich kopfschüttelnd an. Am Ende der anderen Leitung herrschte Stille. "Bitte!", flehte ich, nun den Tränen nahe.

Er räusperte sich. "Ihr Vater ist tot."

Tot.

Papa ist tot.

Ich realisierte nicht, dass der Bus vor der Haltestelle mit einem Seufzen hielt und kurz darauf wieder wegfuhr. Tränen verschleierten meine Sicht, und ich schluchzte los. Ich schmeckte salzige Tränen, doch es war mir egal. "Das kann nicht sein!", schrie ich in den Hörer, "Das ist nicht möglich!"

"Mein Beileid", murmelte der Polizist, in seiner Stimme schwang Mitleid mit. Er wartete, bis mein haltloses Schluchzen leiser wurde und fuhr dann zerknirscht fort: "Die Sanitäter konnten nichts mehr für ihn tun."

Meine Stimme klang hohl. "Was ist die Todesursache?" Wieder herrschte diese unangenehme Stille, und ich war kurz davor, ihn wieder anzubrüllen, als er schliesslich sagte:

"Er wurde ermordet."

 Re: Autumn Winds
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 08.09.2018 15:03
Bewertung:
 

Die Mutter war's.
Deshalb meinte sie, Helene sollte sich verabschieden....oder nicht?

 Re: Autumn Winds
Autor:
 Equestrice (Profil)
Datum:
 08.09.2018 16:27
Bewertung:
 

Ist das so offensichtlich? (:D

 Re: Autumn Winds
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 09.09.2018 05:42
Bewertung:
 

Absolut

 Re: Autumn Winds
Autor:
 MyStory (Profil)
Datum:
 20.09.2018 15:32
Bewertung:
 

manche menschen steigen schon früher aus... :,(
Ich denkie das wars für mich...